Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner
Platon: 12 - ein Symbol der Ordnung des größeren Ganzen und der Gerechtigkeit
(12 Platon+Gerechtigkeit.docx)
Am Ende des 1. Buches Politeia erwähnt Platon die Zahl 12 (337 St.). Dort, wie im allgemeinen, steht sie für eine Art Quintessenz dessen, was ein größeres Ganzes zu sein hat, analog dem Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Zusammen bilden sie eine neue und größere Ganzheit (1 + 2 ® 12). Die neue Einheit und Ganzheit wird durch die Gerechtigkeit (x) bewirkt (3). Sie drückt die an sich verborgene Vollkommenheit (1) in ihren Bestandteilen, dem Geist (3), der Substanz (4) und dem Subjekt (5) aus. Den geometrischen Hintergrund von Platons Politeia bildet somit das pythagoreische Gesetz, das rechtwinklige Dreieck der Seitenlängen 3-4-5.
Die Gerechtigkeit ist das Schlüsselthema für die Organisation eines Staates. Konsequent wirft das 1. Buch der Politeia deshalb die Frage auf, was Gerechtigkeit sei? Sokrates ist der Gesprächsführer einer besonders heftigen aber von ihm jederzeit wohlwollenden Auseinandersetzung. Auf diese Weise demonstriert er das rechte, verbindende und verbindliche Verhältnis (3) der Beteiligten zueinander, welche trotz aller Gegensätze um ein gemeinsames, größeres Ganzes ringen. Das Buch schließt mit einer überraschenden Lösung, die scheinbar keine ist, aber doch das Wesen der Gerechtigkeit im Bild des pythagoreischen Dreiecks zum Ausdruck bringt: Die Differenz zwischen den Hauptkontrahenten Sokrates und Thrasymachos bleibt bestehen. Sie bekundet deren gegenseitigen Respekt und erhebt so das Prinzip der Zweiheit, der Gegensätzlichkeit und Polarität selbst im offensichtlichen Zwist auf eine höhere und fruchtbare Ebene.
Obwohl die Differenzen zwischen Sokrates und seinem Hauptwidersacher Trasymachos[i] weiter bestehen bleiben, lässt Platon am Ende des Buches eine Einigkeit zwischen beiden aufscheinen, welche er schon früh mit einem Zahlengleichnis über die Zahl 12 begründet hatte (337 St.). In der Bedeutung der Zahl 12 erblickt er die Möglichkeit, scheinbar unvereinbare Gegensätze, wie sie zwischen Sokrates und Trasymachos bestehen, zu überwinden.
Das verbindende Element der Kontrahenten ist deren gemeinsames Wissen um die Qualität der Zahl, eine Qualität, welche ausdrücklich die zählende und rechnende Seite der Zahl übersteigt. Es ist die Einheit von Ganzheit (1) und Bruch (2), um die es geht, so, wie es die Zahl 12 in ihren zu einer Einheit verbundenen Bestandteilen vorführt (1 + 2 ® 12). Möglich wird die Verbindung der Gegensätze, weil die Gegenpole auf eine rechte, verbindliche und verbindende Weise zueinander in Beziehung gebracht werden.
Der Hauptakteur und aufdringlich fragende Sokrates hat nur ein Ziel, einen möglichen Konsens zu erringen. Die Dynamik, die Qualität der Dreizahl, bindet sich in einem rechten Verhältnis an ihr Gegenteil, die Vierzahl, welche ihrerseits das Beharrende verkörpert. Konkret treffen hier die Dynamik der Jugend und das zunehmende Ruhen durch das Alter aufeinander. Beide gehören gleichermaßen zum Leben. Platon untermalt den allgegenwärtigen Gegensatz von Dreiheit und Vierheit in unterschiedlichen Stufen und Bildern. So hinterfragt Sokrates das Vermögen (330 St.) eines reichen Gesprächspartners, ob es selbst erworben oder ererbt sei? Dessen Materialität und Vierheit beleuchtet er im Lichte der in ihr vorhandenen Dreiheit und Dynamik in Form des Nutzens (3) des Geldbesitzes (4). Sokrates lässt die Trennung von 3 und 4 nicht zu. Die Wechselgespräche erörtern die Gerechtigkeit (4) und bedienen sich dabei immer wieder der Funktion (3), wie beispielsweise dem „Verkehr, Handel und Wandel“.
Wird einerseits von Sicherung und Aufbewahrung (4) gesprochen, so folgt dem andererseits unmittelbar die Frage nach dem eigentlichen Gebrauch (3) der verwahrten Dinge (4). Platon demonstriert so, dass der Zwist nicht auf einer dinglichen, rechnenden Ebene überwunden werden kann, sondern vielmehr einen Ebenenwechsel voraussetzt, wie er im pythagoreischen Dreieck anschaulich wird. Die dingliche Sicht allein führt zu keiner Fruchtbarkeit. Auch die größte praktische Geschicklichkeit führt noch nicht zur Gerechtigkeit: „Der geschickte Wächter einer Sache ist also auch ein geschickter Dieb derselben“ (334 St.). Freund und Feind lassen sich nicht recht bestimmen. Für die Gerechtigkeitsfrage findet sich aus einer rein dinglichen Sicht (4) allein keine Lösung. Eine solche verlangt nach der Dreiheit und ihrer Dynamik, dem dritten, erlösenden Punkt, von dem aus das vernichtende Gegeneinander überwachsen werden kann.
Als beispielsweise Sokrates und Polemarchos im Gerechtigkeitsdiskurs zu keinem Ergebnis gelangen, platzt aus ihrer Mitte ein dritter, Thrasymachos herein. „Zum Sprung wie ein wildes Tier“ ansetzend fordert er die beiden auf, ihre fruchtlose, gegenseitige Gutmütigkeit und Nachgiebigkeit gegeneinander endlich zu beenden. Doch Sokrates nutzt die Dynamik des Thrasymachos, um auf dessen verborgene Weisheit hinzuweisen, und unterstellt ihm, zu wissen, „wie viel 12 ist“. Sokrates gibt zu erkennen, dass sein Gegenüber und er begreifen, dass die Betrachtung der Zahl 12 eine gemeinsame höhere Dimension eröffnet.
Der Name Trasymachos enthält die grch. Wurzeln „thrasus“ (θρασύς) für „fett“ und „mache“ (μαχη) für „Schlacht“ und bedeutet deshalb soviel wie „fett durch Schlacht“. Der Name Trasymachos steht für das in der Natur scheinbar vorherrschende Recht des Stärkeren, das u.a. den Egoismus des Menschen begründet. Trasymachos erfüllt mit seiner Antwort, dass das „Gerechte der Vorteil des Stärkeren“ sei, einen wichtigen Dienst. Er dynamisiert und stellt dem Geistigen (3) die Materialität (4) an die Seite. Ihm selbst unbewusst aber bezeichnend lässt auch er die Trennung beider nicht zu. Im Glauben, die Gerechtigkeitsfrage hinreichend beantworten zu können, verlangt er dafür von Sokrates einen Lohn. Der besteht aus zwei Anteilen, dem geistigen Anteil durch das Hinzulernen (3) und dem materiellen Anteil durch Gold (4).
Am Ende des ersten Buches finden Sokrates und Trasymachos trotz bestehender Unterschiede einen Konsens mit folgender Quintessenz (5): Sie unterscheiden zwischen einer Sache (4) und der Funktion und Leistung (3) die ihr zukommt. Als Beispiel führt Sokrates das Auge und sein Sehen, sowie das Ohr und sein Hören an. Sofern etwas, eine Sache oder ein Wesen, die ihnen zukommenden Funktionen zu erbringen vermögen, bezeichnet er sie als deren Tugenden. Diese Tugenden haben sie nicht durch Schlechtigkeit sondern durch das rechte, ihr zukommende Verhalten. Der so hergestellte Zusammenhang gilt auch für die Seele und die ihr zukommende Leistung und Funktion. Ihre Tugend ist die Gerechtigkeit.
Die 12 und die Fortsetzung der Gerechtigkeit Platons durch Aristoteles
Die Frage nach dem größeren Ganzen, der Ordnung und der Gerechtigkeit lässt sich aus einer linearen Sicht heraus nicht beantworten. Wie die Zahl 12 verlangt sie einen Ebenenwechsel in der Betrachtung, wie er vom Dreieck im allgemeinen und vom pythagoreischen Dreieck im Besonderen symbolisiert wird. Da jede Darstellung sich notwendigerweise einer beschränkenden Form bedienen muss, bleiben dieser auch die Aussagen Platons unterworfen. Jede Aussage ist immer wieder nur ein Anlass für weitere Dynamiken. Das wusste Platon und stellte seiner Politeia den aspektreichen Gerechtigkeitsdialog voran. Für den nach ihm kommenden Philosophen Aristoteles geriet Platon nun in die noch unvollkommene Position, welche einst Trasymachos in der Politeia einnahm. Aristoteles eröffnete 12 Jahre nach dem Tod Platons eine eigene Schule. In ihr lehrte er u.a. die sogenannte Nikomachische Ethik. Sie führt den Gerechtigkeitsdialog Platons fort.
Aristoteles nimmt in seiner Nikomachischen Ethik ebenfalls eine unwiderlegbare Gegenposition zu Platons Deutung von Gerechtigkeit ein. Der Name Nikomachos bezieht sich nun allerdings auf den Begriff des Sieges (s. Nike, die Siegesgöttin) und veredelt den Namen Trasymachos („fett durch Schlacht“) durch die Argumente Aristoteles. Indem Aristoteles seine Ethik so bezeichnet, nimmt er indirekt Bezug zu den fundamentalistisch anmutenden Argumenten Trasymachos, welche schon Sokrates nicht endgültig widerlegen, doch aber mit ihm einen Grundkonsens erarbeiten konnte. Das „Siegen“ ist ein natürliches Streben des Menschen. Es ist an sich nicht unethisch, unterscheidet sich aber wesentlich vom Recht des Stärkeren, wie es der subjektiv anmutende Trasymachos vertritt. Aristoteles gewichtet mit seiner siegesorientierten Nikomachischen Ethik das Subjekt und ergänzt auf diese Weise den Gerechtigkeitsbegriff Platons, der sich ohne die Ergänzung einer fundamentalistischen Fehldeutung aussetzt.
[i] Thrasymachos ist ein Sophist, der sich seine Belehrungen bezahlen lässt und für den die Gerechtigkeit „nichts anderes ist, als das dem Stärkeren und Überlegenen Zuträgliche.“ (Platon, Politeia 338c)