Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner

Der Hase und das Dreihasenmotiv

(Hase + Dreihasenmotiv.docx)

Dreihasenfenster im Dom zu Paderborn

Das Hasenmotiv ist ein Motiv, das einen Archetypus beschreibt und so weitgehend die Kulturen übergreift. Wir finden es ebenso im alten Ägypten wie in China. Besonders häufig jedoch begegnen wir ihm im jüdisch-christlichen Kulturkreis. Seine Varianten sind vielfältig, sind aber, wie wir sehen werden, wegen seines archetypischen Charakters auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen. So vielfältig wie die Darstellungsvarianten des Hasenmotivs, insbesondere auch des sogenannten Dreihasenmotivs sind, sind auch seine Deutungen.

 

Dem Hasen werden zumeist Begriffe zugeschrieben, wie Fröhlichkeit, Fruchtbarkeit, Schöpfung, Drei-Einheit u.a. Sie erfassen jedoch seine Botschaft nicht wirklich. Ein Einzelbegriff kann das naturgemäß nicht leisten, denn der Hase ist geradezu das Gegenteil der Einzelansicht. Er ist ein Symbol für den Umgang mit der Polarität. Um ihn zu erfassen, bedarf es der Kenntnis dreier Qualitäten – der klassischen Trias. Der Hase und sein Symbol bringen den Widerspruch mit sich und fordert das Bewusstsein auf, ihn durch einen Dimensionswechsel in der Betrachtung der Dinge im Sinne einer Ganzheit zu lösen. Im Hasen entdeckt der Mensch einen ihn selbst betreffenden Urwiderspruch. Auf der einen Seite entspringt der Mensch einer beeindruckend vollkommen erscheinenden Natur und auf der anderen Seite befindet er sich im Gegensatz zu ihr. Obwohl der Widerspruch auf vielen Ebenen zutage tritt, fällt er im Fortpflanzungstrieb der sich selbst erhaltenden Natur besonders ins Auge, weil in ihm zugleich die körperliche als auch die geistige Ebene sichtbar werden, die im Menschen in stetiger Auseinandersetzung stehen. Der ausgeprägte Fortpflanzungstrieb des Hasen, seine Fruchtbarkeit und die in dem Tier sichtbarwerdende wilde und doch vollkommene Natur lassen ihn zum Ausgangsargument geistigen Erhebens des Menschen werden.

 

Hasen fehlen auf kaum einem Schöpfungsbild. Weil in ihnen die Trias zur Lösung eines Widerspruchs sichtbar wird, werden die Hasen regelrecht zu ihrem Zeichen und damit auch zur Dreieinigkeit Gottes. Die Anordnung von drei Hasen im Kreis ist demnach eine konsequente Symbolfortführung. Eine der bekanntesten Dreihasendarstellungen in Kreisform finden wir im berühmt gewordenen Dreihasenfenster im spätgotischen Kreuzgang des Paderborner Doms. Wer das Fenster betrachtet, dem begegnet der Widerspruch zwischen dem Betrachten des ganzen Tieres und dem Betrachten seiner einzelnen Löffel. Der Widerspruch ist ein Widerspruch zwischen zwei Betrachtungsebenen. Der einzelne und ganze Hase hat zwei Löffel und doch sieht man unter dem Aspekt des vollkommenen Kreises insgesamt nur drei. Das Wesen dieser Dreiheit ist es, welches vom Betrachter in seiner Dualität erfasst werden und als eine verborgene, zweifache Dreiheit ganzheitlich gedeutet werden will.

 

Die Deutung des „Hasenrätsel“ verweist und auf die biblische Zahlensymbolik. Am sechsten Schöpfungstag schaut der Schöpfergott auf die Vollkommenheit seiner in zweimal drei Tagen hervorgebrachten Schöpfung. Nur der sechste Tag enthält die aus 6 hebräischen Wörtern bestehende, erweiterte Huldigungsformel „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte und schau, es war sehr gut“ (Gen 1:31)[i].

 

Der Hinweis auf die Zahlensymbolik der drei im Kreis angeordneten Hasen erfolgt durch eine Reduzierung, durch einen scheinbaren Mangel. Der Archetyp eines scheinbaren Fehlers ist der zweite und scheinbar zwiespältige zweite Schöpfungstag in der Genesis. Ihm fehlt – im Gegensatz zu allen anderen Schöpfungstagen – jede Art von Huldigungsformel. Dieses Prinzip der Schöpfung ist es, was mit Hilfe der Hasen verstanden werden soll. Alles was in die Existenz tritt, das tritt durch die Zweiheit, die Polarität in die Existenz, denn ohne sie kann nichts existieren. Zwei bedeutet im Gegensatz und in Beziehung zur Eins (1:2) Halbheit, Geteilt-sein, Reduktion oder einfach „Fehler“. Die Zwei hat einen direkten Bezug zum Empfinden eines Mangels, obwohl sie ebenso das Gegenteil beinhaltet, wie es die Zwei als eine zweifache Eins zeigt. Auf diese Unterscheidung kommt es an, denn das Bewusstsein nimmt die Differenzierung wahr und legt darin die Interpretationsgrundlage für die nachfolgenden komplexeren Zusammenhänge.

 

Besonders deutlich wird die Tragweite der Deutung in der Gegenüberstellung der jüdischen Hasendarstellung und der christlichen Verwendung des Hasenmotivs. Das Christentum hebt die durch den Hasen vermittelte Fröhlichkeit und Fruchtbarkeit hervor, was in Verbindung mit dem Ei und der Buntheit des Lebens zum Symbol für die Auferstehung Christi wird und das Symbol des Osterhasen hervorgebracht hat. Das Hasenmotiv ist in der christlichen, mittelalterlichen Kunst zahlreich und auf Schöpfungsbildern kaum wegzudenken. Die jüdische Vorstellung vom Hasen ist von ganz anderer Natur. Der Hase ist nach den von Mose festgeschriebenen, göttlichen Nahrungsgesetzen für das Volk Israel ein unreines Tier und darf nicht gegessen werden.

(Link erstellen zu Aufsatz: Das Prinzip der Zwei, das „Spalten“ (2) und die Nahrungsordnung in der Torah)

Tatsächlich verkürzen die jüdischen wie die christlichen Vorstellungen im Unwissen über die wahren biblischen Texte deren Botschaft. Sie werden ihrem Inhalt nicht gerecht, weil man die Sprache der Archetypen nicht mehr kennt. In beiden Kulturen wird nur ein Teil, also die halbe Wahrheit übermittelt, obwohl die Originaltexte beide Seiten beleuchten.

 

Der Hase ist ein Symbol für das Ur-Gesetz allen Seins, das im Zahlsymbol der Vier sichtbar wird. Zu ihm gehören auch das Kreuz und das Quadrat, die in den unterschiedlichsten Kulturen zu verschiedenen Darstellungen eines göttlichen Urgrundes führen. Solch eine erste „Substanz“ ist der Inbegriff sowohl von Stabilität als auch Fortentwicklung. Möglich wird sie, weil im Wesen der Vier das Andere und scheinbar Mangelhafte (2) einen festen Platz im Ganzen (1) hat und so zusammen mit dem Gegenpol ein neues, höheres Ganzes (4) erscheinen lässt.

 

In der Kategorie des Bewusstseins handelt es sich um den sogenannten Logos. In der Zahl 4 und im Symbol des Hasen existiert über diese Vollkommenheit aber noch kein Bewusstsein. Um es zu entwickeln, müssen sich die in ihr vorhandenen, polaren Qualitäten in ihrer Gegensätzlichkeit und ihrem Zwiespalt erst herauskristallisieren. Das geschieht metaphorisch in den Bildern und Erzählungen über Hasen. Der Kernpunkt der Bilder und Erzählungen ist der Umgang mit den verschiedenen Blickweisen auf das Wesen der Polarität. Je nach Sichtweise entspringt aus ihm ein anderes Tun – eine andere Funktion (3).

 

Durch die Anordnung der drei Hasen im Kreis wird der Fokus der Betrachtung verschoben. Plötzlich steht nicht mehr das ganze Tier und seine Bedeutung im Zentrum sondern ein Teil von ihm, die sogenannten Löffel, wie man die Ohren der Hasen bezeichnet. Ein Hase mit seinen zwei natürlichen Löffeln führt seine zwei Pole zu einem Ganzen zusammen und entwickelt daraus sein Verhalten (3).

Wird durch eine Blickfixierung auf die Funktion – den Kreis – der notwendig polare Ursprung die Polarität nicht mehr als solcher wahrgenommen, dann treten auch die sich ursprünglich ergänzenden Gegensätze in den Hintergrund und das Ganze erscheint in einem reduzierten Licht. Das Halbe wird zum Ganzen erhoben und die Einseitigkeit wird zur Funktion. Das Bewusstsein stößt an seine Grenze. Aus jenen Grenzen der Weltbetrachtung erwachsen die Bilder und Erzählungen über Hasen.

 

Wer dem Dreihasenmotiv begegnet, der bemerkt, dass etwas verkürzt ist und somit nicht stimmig ist. Im besten Fall wird er so auf das bekannte „Höre Israel“ (Dtn 6,4)[ii] und „Und ganz Israel sie werden hören…“ (Dtn 13,12)[iii] aufmerksam, in deren Rahmen auch der Hase auftaucht und scheinbar „irrtümlich“ als Wiederkäuer beschrieben wird. In Wirklichkeit aber ist der Hase dort (Dtn 14,7f) das zweite von drei unreinen Landtieren (Kamel, Hase, Klippdachs), die alle drei logische Unstimmigkeiten und somit die Unreinheit mit sich bringen. Erst das vierte der insgesamt vier unreinen Landtiere, das Schwein wird wieder mit der Vernunft zugänglichen, linearlogisch stimmigen, „wahren“ Argumenten als unrein erkannt, weil die Vierzahl die Zahl der Vollkommenheit ist und damit auch die „Zahl der Reinheit“.

 

 

Der Hase im Gemälde „Madonna mit dem Kaninchen“ von Tizian

 

Der Archetypus des Hasen bringt zwei Blickweisen zur Anschauung. Das ist zu einem die reine Vollkommenheit der Schöpfung, die als solche zwar vollkommen ist, der aber ein Bewusstsein über ihre Vollkommenheit noch fehlt. Zum anderen vermittelt der Hase dem erwachenden Bewusstsein neben der sodann wahrgenommenen, relativen Vollkommenheit auch den Zustand des Fehlenden und somit Unreinen, das es zu überwachsen gilt. Der Hase reflektiert diese Weise zwei Dimensionen, deren Zusammenwirken nur von einem reifen Bewusstsein vernommen werden.

 

Madonna mit dem Kaninchen / Tizian

Der italienische Renaissancemaler Tizian hält die Verhältnisse der Dimensionen und ihre vielschichtige Dynamik in seinem um 1530 erstellten Gemälde „Madonna mit dem Kaninchen“ fest. Auf dem Gemälde sind zunächst 5 lebendige Wesen zu sehen, das Kaninchen in der untersten Position, Maria, das Jesuskind und die heilige Katharina. Die Vier bilden deutlich eine geschlossene Vierergruppe. Das Jesuskind ist das erwachende Bewusstsein. Seine Aufmerksamkeit ist auf das weiße Kaninchen, auf die u der portugiesische Etwas erste Kerze gemeinsam mit warum verfolgen Meyer Bayer was löschen wirnterste und doch vollkommene Existenzebene gerichtet. Von ihr ist das Kind fasziniert. Der Blick des erwachenden Bewusstseins geht erst einmal nach unten auf die Vollkommenheit des Seins.

 

In weitester Entfernung zur Vierergruppe, gleichsam am Bildrand und ihr gegenüber befindet sich ein erwachsener Mann in hockender Stellung mit gebeugten Knien. Er hat sich noch nicht erhoben, blickt aber zielgerichtet zur anderen Seite des Lebens auf die Vierergruppe. Im Wahrnehmen der Distanz fällt zwischen ihnen ein „sechstes Leben“ auf. Das ist eine im Hintergrund friedlich grasende Schafherde. Der Welt des noch gebeugten Mannes und seiner natürlichen Lebensweise erschließt sich gerade eine höhere Existenz. Das weiße Kaninchen und der kniende Mann gehören der niederen Ebene an, wobei die Welt des Tieres eine in sich ruhende und vollkommene Welt ist, die von Maria, die das Kaninchen streichelt, geschätzt und gewürdigt wird. Maria verbindet zwei Welten, die neugeborene höhere, das Jesuskind und die natürliche, niedere, das Kaninchen. Tizian verleiht Marias zweifacher Zugehörigkeit Ausdruck durch die Gestaltung ihres Gewandes, das aus den symbolisch entgegenwirkenden Farben blau und rot besteht. Maria vereint die Gegensätze und sie ist mit dieser Eigenschaft der gegenständliche Mittelpunkt des Gemäldes. Sie zeichnet zudem zugleich eine deutlich aufwärtsstrebende Dreieckstruktur auf. Darin erhebt Tizian die Dreizahl in dem vielschichtigem Werk zum Zentrum alle ihrer Dynamiken.

 

 

[i] Der originale hebräische Text und seine 6 Wörter:

[ii] Höre Israel, JHWH unser-Gott, JHWH  [ist] EINS/EINER (Dtn 6,4). Die Rezitation des sogenannten „Schmah Israel“ ist das zentrale Ereignis des täglichen synagogalen Gottesdienstes und hat die Funktion eines jüdischen Glaubensbekenntnis.

[iii] Und ganz Israel, sie werden hören und sie werden sich fürchten und aufhören zu tun gleich der Sache der Bösen in deiner Mitte dieser dort … (Dtn 13,12).