Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner
Leonardo da Vinci und der vitruvianische Mensch
(Vitruvianische Mensch.docx)
Inhaltsverzeichnis
- Die Popularität der Abbildung und ihre Gründe
- Der Mensch und sein vergessener Schatten
- Proportion: zählende Zahl oder erzählender Archetyp
- Die „Quadratur des Kreises“, Einheit und Zweiheit als Archetypen
- Der nicht vorhandene goldene Schnitt
- Die Weisheit des Leonardo da Vinci und der Gegensatz im Geschlecht
- Die Popularität der Abbildung und ihre Gründe
Kaum eine andere Abbildung hat einen solchen Bekanntheitsgrad wie die des sogenannten, vitruvianischen Menschen. Man begegnet dieser Abbildung im Alltag regelrecht auf Schritt und Tritt. Die Gründe sind leicht erkennbar:
Der Mensch sucht nach seinem Selbstverständnis, nach dem Sinn seines Daseins und nach seinem Platz in der mitunter undurchschaubaren Schöpfung.
Wenn wir den vitruvianischen Menschen betrachten, dann drängt sich uns unmittelbar der Eindruck auf, dass Leonardo da Vincis in seiner berühmten Skizze die Antwort auf unsere Fragen verborgen hält. Das komplizierteste aller Wesen wird unmittelbar mit den beiden einfachsten, geometrischen Symbolen, dem Kreis und dem Quadrat in ein Verhältnis gesetzt. Selbst wenn wir die in ihr verborgene, tiefgründige Aussage noch nicht zu deuten vermögen, so erkennen wir doch, dass unsere Frage nach der menschlichen Existenz die Frage nach dem Zusammenhang vom Kompliziertesten mit dem Einfachsten ist.
- Der Mensch und sein vergessener Schatten
Das komplizierteste aller Wesen, der Mensch, ist ausgespannt zwischen Himmel und Erde, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit (Unendlichkeit und Endlichkeit), zwischen Ideal und Wirklichkeit – zwischen Kreis und Quadrat. Alles Existierende scheint auf ihn regelrecht hingerichtet zu sein, und ihm kommt die größte Machtfülle zu. Kein Wesen ist der Vollkommenheit seines Schöpfers so nah, und doch erzeugt dieses Wesen mit jedem seiner Gedanken und mit jeder seiner Handlung Schatten. Menschliche Existenz ist nicht anders denkbar als eine Existenz durch Schatten – mehr noch, sie ist Schatten. Das bringt die Skizze Leonardos in ihrem Original zum Ausdruck.
Der Mensch ist in seinen unterschiedlichen Erscheinungen bzw. in seiner von ihm erzeugten Dynamik von Schatten umgeben. Die Nachzeichnungen der Originalskizze lassen in Unkenntnis der Symbolik, den Schatten mitunter vermissen.
- Proportion: zählende Zahl oder erzählender Archetyp
Der Mangel an Symbolverständnis lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters ausschließlich auf die rechnenden und zählenden Aspekte der Skizze anstatt auf den erzählenden Aspekt, welcher hinter ihr steht.
Wir wollen uns nun dem vitruvianischen Menschen unter dem rechnenden Aspekt nähern, ohne dabei den symbolischen Aspekt zu vergessen.
Der vitruvianische Mensch ist eine menschliche Proportionsfigur analog der Proportionsregel des römischen Architekten Vitruv (ca. 80–70 v. Chr. bis ca. 10 v. Chr.). Nach ihm wird ein Mensch mit gespreizten Extremitäten so in einen Kreis eingezeichnet, dass diese den Kreisumfang berühren. Der Nabel des Menschen entspricht dem Kreismittelpunkt. Nach Vitruv findet man in der Gestalt des Menschen auch noch die Figur des Quadrats. Über die Lage dieses Quadrats im Verhältnis zum Kreis berichtet Vitruv nichts.
„Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“ (Vitruv)
Während zahlreiche andere Illustratoren der vitruvianischen Proportion die Mittelpunkte von Kreis und Quadrat zur Deckung brachten, wie dies die nebenstehende Abbildung zeigt, wählte Leonardo eine darüber hinausgehende Sichtweise und Interpretation. Er verbindet Kreis und Quadrat nicht aufgrund ihrer eigenen geometrischen Parameter, sondern lässt zwischen beiden eine offensichtliche Differenz zu. Kreis- und Quadratmittelpunkt fallen bei ihm nicht zusammen. Die Verbindung beider Figuren ist nur noch eine periphere. Die Differenz wird zum Gewinn für den Menschen. Leonardo macht ihn mit seinen unterschiedlichen Kriterien zum Zentrum beider.
Die so andere Sicht Leonardos begründet sich in seiner anderen Sicht auf die Polarität im allgemeinen und die des Menschen im besonderen. Sie wird im Verhältnis der beiden geometrischen Figuren Kreis und Quadrat deutlich. Ihr rein geometrischer Bezug zueinander ist bekannt und existiert unabhängig vom Menschen. Der Mensch realisiert aber mit seinem Bewusstsein die in beiden Formen enthaltenen und sich voneinander unterscheidenden Archetypen. Dabei stellt er fest, dass sie sehr unterschiedliche Welten verkörpern und dass sich ihre Parameter nicht auf eine einfache, linear-logische Weise verbinden lassen.
- Die „Quadratur des Kreises“, Einheit und Zweiheit als Archetypen
Wir wissen, die Quadratur des Kreises ist uns nicht möglich: Mit den für die geometrischen Figuren typischen Parametern, Zirkel und Lineal, lässt sich kein Kreis in ein flächengleiches Quadrat verwandeln.
Die Unterschiedenheit (2) beherrscht das Verhältnis von Kreis und Quadrat. Und doch besteht trotz ihrer Unterschiedenheit eine tiefsinnige Verbindung zwischen beiden. Sie wird deutlich über die Sicht der Archetypen, welche Kreis und Quadrat verkörpern. Der Kreis, das Symbol der Einheit, bildet als Kreis mit dem Radius 1 (Einheitskreis) in sich ein Quadrat mit der Fläche 2 ab! Mit anderen Worten: Die allen Erscheinungen zugrunde liegende Einheit schließt die von ihr unterschiedene (2) und doch von ihr geprägte Welt des Quadrats (4) ein. Die Welt (4) wird von der Ganzheit (1) erhalten!
Die Unterscheidung von Kreis und Quadrat ist eine archetypische, eine Ur-Unterscheidung zwischen den Zahlen 1 und 2, die hier geometrisch abgebildet wird. Sie ist keine linear-logische, d.h. rational rechnerische sondern setzt eine Sichtweise voraus, zu welcher nur das höhere Bewusstsein des Menschen fähig ist. Der Mensch vermag so Dinge zu einen, welche scheinbar keinen Bezug zueinander haben.[i]
Leonardo trägt mit seiner Illustration des vitruvischen Menschen diesem Umstand Rechnung. Für ihn ist der Mensch Maß und Mittelpunkt der voneinander unterschiedenen Archetypen Kreis und Quadrat.
Um das deutlich zu machen, hebt er die Zweiheit, die Unterscheidung ausdrücklich hervor und bedient sich ihrer. Im Gegensatz zu anderen Illustratoren überlagert Leonardo zwei Menschen in von einander unterschiedenen Haltungen. Der eine bildet nach der Vorgabe Vitruvs mit seinen Nabel den Kreismittelpunkt, der andere bildet mit seinen Extremitäten ein Kreuz und zugleich mit seinem Genital den Mittelpunkt des Quadrats. Die sich in ihrem Wesen unterscheidenden geometrischen Figuren Kreis und Quadrat stehen bei Leonardo nur in einem peripheren Kontakt. Sie finden ihren Bezug durch den Menschen. Das eine Abbild des Menschen wird über seinen Nabel aus dem Kreis, dem Sinnbild für Ganzheit und Vollkommenheit heraus geboren. Das andere Abbild stellt den Menschen über sein Genital in den Mittelpunkt des Quadrats, dem Sinnbild der von der Sexualität durchdrungenen Welt.
Leonardo enthebt den Menschen nicht der Zweiheit, der er seine Existenz verdankt. Vielmehr formt er dessen Polarität aus und macht sie so sichtbar zu seinem Bestand. Nach Leonardos Illustration hat der Mensch zwei Zentren, den vorgeschlechtlichen, göttlichen Nabel und das aus ihm herausgeborene, der Welt zugehörige Geschlechtsmerkmal.
- Der nicht vorhandene goldene Schnitt
Die durch den Menschen gehaltene Spannung wird dem eingehenden Betrachter dann noch einmal besonders deutlich, wenn er die Figuren Kreis und Quadrat in Leonardos Zeichnung auf rein geometrische Weise in Einklang zu bringen versucht. Quadrat und Kreis stehen nicht, wie man vielleicht erwartet, und wie gelegentlich auch behauptet wird, im sogenannten, legendären goldenen Verhältnis. Der Kreisradius weicht gegenüber der Seitenlänge des Quadrates um ca. 2% vom goldenen Schnitt ab. Auch sind Kreisumfang und Quadratumfang nicht identisch, wie das beispielsweise bei der Konstruktion der Cheopspyramide der Fall ist (die Höhe der Cheops entspricht dem umfanggleichen Kreis zum Basisquadrat der Pyramide). In Leonardos Skizze weichen auch sie um nahezu 2% voneinander ab.
- Die Weisheit des Leonardo da Vinci und der Gegensatz im Geschlecht
Leonardo hat Vitruv nicht nur illustriert. Er hat die maßgebenden Hintergründe der menschlichen Existenz offengelegt und interpretiert. Nichts Geringeres war seine Absicht. Diese, seine Erkenntnis hat er in seinen Werken versucht umzusetzen. Seine höchsten Meisterwerke, welche er Zeit seines Lebens nie aus seinen Händen gab und welche seinen persönlichen Wohnraum zierten, waren zwei Bilder: Mona Lisa und Johannes der Täufer. In ihnen hat er seine höchste Erkenntnis auf gegengeschlechtliche Weise buchstäblich verbildlicht.
[i] Pythagoras: „Die höchste Weisheit eines Menschen besteht darin, Dinge zu einen, welche scheinbar keinen Bezug zueinander haben.“
… dazu einen Tagebucheintrag von Leonardo da Vinci:
„Gebildete Männern werden sich ansehen, was ich tue und das als nutzlos bezeichnen.
Doch die Worte, die ihren Mündern entwehen, sind so weise, wie der Wind der Fürze aus ihren Ärschen. Was für Idioten! “