Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner

Erlösung

(Erlösung.docx)

Unter Erlösung versteht man den Vorgang, etwas zu vollenden. Konkret meinen wir damit, uns und unser Verhältnis zur Welt zu einem positiven Ende zu bringen.

Erlösung zielt auf die Überwindung eines Jetztzustandes. Sie entspringt dem Gefühl eines Mangels, dem Mangel hinter unseren eigentlichen Möglichkeiten zurückzubleiben. Das Gefühl dieser „Eigentlichkeit“ erweckt die Hoffnung und Vision, doch einmal etwas sein zu können, was wir heute noch nicht sind.

Erlösung bedeutet Befreiung von etwas. Die Begriffe der Erlösung und der Freiheit verweisen in besonderer Weise auf das hinter ihnen stehende Prinzip der Zweiheit, das uns im Begriff der Polarität begegnet, denn befreien kann man sich immer nur VON etwas. Die absolute Freiheit kann es nicht geben. Freiheit ist immer Freiheit von … .

Insofern führt uns das so komplizierte und anspruchsvolle Konzept einer Erlösung in allen seinen Erscheinungen und Aspekten immer wieder zurück auf das rechte Verständnis der Polarität (2) und das meint ganz konkret ihre Beziehung zur Einheit (1). Das Verhältnis 1—2 bzw. 2—1 ist es, was wir verstehen müssen, um den Vorgang der Erlösung und Vollendung zu verstehen.

Wenn wir von Erlösung sprechen, dann sprechen wir vorerst nicht von diesem abstrakten Verhältnis sondern wir sprechen von unserer Sicht auf die konkrete Welt (4). Diese wiederum wird von diesem Ur-Verhältnis bestimmt. Das Gefühl, im Wesen der Welt etwas Unangenehmes zu erblicken, ist eine Entfaltung des Glaubens, die Zweiheit und Polarität (2) wäre von der Einheit und Vollkommenheit (1) abgefallen und müsse überwunden werden.

Aus der uns eigenen, polaren Sicht spaltet sich die Frage nach der Erlösung in zwei scheinbar gegensätzliche Fragen auf: Muss die Welt überwunden und erlöst werden, oder sind wir es, die erlöst werden müssen? Die Polarisierung hört mit ihrer Entfaltung nicht auf sondern mündet vielmehr in weitere Fragen, wie die, ob die Erlösung eine Selbsterlösung sein kann oder ob sie von außen, durch einen Gott und durch seine Gnade geschieht? Hinter der ewig zweiseitigen Frage steht die eine, grundsätzliche Frage nach dem Ursprung (1). Nur wenn wir ihn recht verstehen lernen und zu ihm als Subjekt so ein angemessenes, rechtes Verhältnis finden, werden wir ihn in unserer Existenz wiedererkennen. Erst dann können wir in unserer stets existierenden Distanz zu ihm, uns mit ihm versöhnen. Am Ende geht es um die Versöhnung unseres Daseins mit dem Ursprung, wie sie von der Beziehung der Zahlen 1 und 5 „im Bilde der Einheit“ und „der Einheit des Bildes“ (Gen 1,27)[i] ins Bild gesetzt werden (s. 1—5 und goldener Schnitt).

Die Frage der Erlösung hat stets zwei Seiten und ist nicht in nur einem ihrer beiden Teile zu beantworten, denn es geht am Ende um die unauflösliche Bindung der Zweiheit an die Einheit. Gleichwohl sind beide im Laufe der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende immer wieder für sich allein ausgeführt worden und zur Rechtfertigung von institutionellen Erlösungsstrategien verwendet worden.

Beschäftigt man sich intensiv mit nur einer, so taucht man unvermeidlich in den Argumenten der anderen und ausgegrenzten wieder auf. Am Beispiel von Platon und Aristoteles soll das deutlich werden.

Platon und der Erlösungsgedanke

Platon sprach vom „Körper als das Gefängnis der Seele“ und gilt seit dem als der Urheber der Erlösungsthese. Doch ist die von den Religionen vorgetragene Erlösungsthese keineswegs mit der des Platons identisch. Sie hat vielmehr eine ganz andere und eigene Form entwickelt.

Die Erlösungsstrategie Platons bestand in der Erkenntnisgewinnung durch die eigene Überlegungskraft. Seine Methode war die des unentwegten Dialogs mit seinem Gegenüber. Der Drehpunkt aller Erkenntnis war das sogenannte Wiedererinnern (Anamnesis) der Argumentierenden an in ihnen schlummernde, ewige Wahrheiten des Wahren, Guten und Schönen. Insofern wird Platon regelmäßig aber verkürzend mit der These der Selbsterlösung gleichgesetzt. Tatsächlich aber hat Platon den Willen des Menschen und seine unentbehrliche, eigene Überlegungskraft nur sehr deutlich als den Anfang der Erkenntnisprozesse herausgestellt. Diese voraussetzenden Überlegungen sowie ihre korrekte Ausführung nehmen ihrer Wichtigkeit wegen in seinen Werken den größten Platz ein. Würde hier bei den Grundlagen etwas nicht oder falsch verstanden werden, dann würde auch alles Weitere zu Missdeutungen führen.

Wer den zweifelsfrei vorhandenen, selbsterlösenden Aspekt in Platons Werken jedoch zum platonischen Universalprinzip erhebt, der irrt. Platon hat das Andere und Ungreifbare, dass in unsere Welt immer wieder einbricht, nicht ausgeklammert – im Gegenteil. Ihm kam es aber auf den rechten Umgang mit diesem der Siebenheit zugehörigen Prinzip an. Das setzt voraus, genaue Kenntnis über die ihm vorangehenden sechs „Welt-Prinzipen“ zu haben. In seinem 7. Brief (???) beschäftigt er sich sodann mit dem „plötzlichen Aufleuchten“ des Unvorhersehbaren in der Welt, das die reine Selbsterlösung notwendigerweise relativiert.

Richtig aber ist, dass für Platon das Denken die spezifische Gabe des Menschen ist, durch dessen Vertiefen die Welt überwunden werden kann. Richtig ist deshalb, dass die Erlösungskonzeption auf Platon zurückgeführt werden kann. Doch steht hinter der Konzeption vor allem das rechte Verständnis der Fünfheit, wie sie im pythagoreischen Dreieck zur Anschauung kommt. Durch die Unkenntnis seiner Beziehungen und der Qualität des Subjekts (5) wird dieses aufgespalten und in die Frage projiziert, wer denn das Subjekt der Erlösung sei, der Mensch oder eine Gottheit? Das führt zu der konstruierten Differenz zwischen der platonischen Lehre und der des Christentums, zum Gegensatz von Selbst- und Fremderlösung.[ii]

Im Mittelpunkt der Lehre Platons steht deutlich sichtbar der Mensch, das denkende Subjekt. Die von ihm gesetzten Ecksteine kann man mit Recht als das abendländische Vermächtnis bezeichnen, das Vermächtnis, die Welt durch Denken überwinden zu können.

Platon nimmt die Zweiheit in ihrem Zwiespalt an und setzt sie der Anstrengung des Bewusstseins aus. Das konkrete Wissen, das er vor dem Hintergrund archetypischen Wissens immer wieder neu vorführt, erweist sich ebenso immer wieder als relativ. Er führt vor, dass das Wissen die Aufgabe hat, zu entlarven. Immer tritt es als ein Abbild, als ein Schein (doxa) von Archetypen auf und immer wieder wird es als ein solches entlarvt. Immer wieder tun sich vorübergehende Linearitäten auf durch die schließlich ein Höheres und Drittes augenfällig wird, das einer Bewegung gleichkommt. Auch die Bewegung wird von der Polarität und Gegensätzlichkeit ergriffen und wird zum Aufstieg und zur Rückkehr. In dieser Dynamisierung werden Polaritäten und Linearitäten schließlich überwunden.

Aristoteles und die Abwesenheit eines Erlösungskonzeptes

Aristoteles, der Schüler Platons wird heute systematisch zum Gegenspieler der platonischen Lehre erklärt. Die formalen Unterschiede ihrer Ausführungen geben dazu vielerlei Anlass. Doch gilt es, im Sinne der platonische Lehre ihre gemeinsamen Inhalte zu erkennen und somit das Wesen der Archetypen zu erhellen.

Aristoteles baut nicht wie Platon das Wissen um die ersten vier Archetypen systematisch auf, das dann in Weisheiten mündet, wie sie das geometrische Gleichnis des pythagoreischen Dreiecks aussagt. Er geht einen anderen Weg, bezweifelt aber auf diesem nicht, wie oft irrtümlich angenommen wird, das Vorhandensein der Archetypen, wie sie in der Akademie gelehrt wurden. Vielmehr geht er gerade von dem Wissen um sie aus und wendet es unmittelbar an. Aristoteles stellt die Existenz der Archetypen in einen anderen, weitreichenderen Kontext. Die Archetypen sind in diesem nicht die formalen Zahlen, wie wir sie uns vor Augen führen. Wären sie die letzten, greifbaren Gewissheiten, so würden sie außerhalb eines zu erkennenden universellen Weltgesetzes stehen und somit jenes durch ihr Außerhalb in Frage stellen. Die Grundlage seiner Denkprozesse ist die besondere Qualität, welche die platonische Lehre in der Vierzahl erkennt. In ihr erscheint die Vollkommenheit im Konkreten (1->4). Insofern spricht alles dafür, von dieser konkreten Substanz (4) auszugehen. Wenn die Einheit von Einheit und Vielheit, von Gottheit und Welt das Ur-Gesetz bereits ist, dann kann ihm nicht noch etwas anderes vorangestellt werden. Die Zahlen sind aus dieser Sicht auch nur Metaphern, aber eben die bestmöglichen. Aristoteles bedient sich ihrer bewusst und notwendigerweise. Nur möchte er sie in einem anderen Licht sehen und nicht der Polarität und Substanz entziehen. Für ihn erwachsen auch die Zahlen aus der „Vierheit“ und stehen nicht im Jenseitigen. Am besten können wir die Unterscheidung Aristoteles’ an der Unterscheidung von Noten und Musik verstehen, welche ebenfalls nicht identisch sind. Die Noten sind nicht die Musik und doch sind sie von allem Greifbaren am besten geeignet, sie abzubilden.

Wenn die Überlegungen des Aristoteles von der Qualität der Vierzahl, dem Konkreten, Manifesten und Vollkommenen ausgehen, so wie es der Schwur der Akademiemitglieder (es bestand in dem „Zählen“ von 1-4) aussagen will, dann gibt es nichts, was einer Überwindung im Sinne einer Erlösung bedarf. Bei Aristoteles gibt es folgerichtig kein Erlösungskonzept. Die Schöpfung beinhaltet bereits alles. Es muss lediglich entfaltet werden.

Während bei Platon die Erlösung durch den Eintritt in das Reich des von vornherein vollkommenen Geistes geschieht, die Materie gewissermaßen vergeistigt wird, geschieht bei Aristoteles das äußere Gegenteil. Bei ihm materialisiert sich der Geist in immer neuen Vierheiten. Sie sind aus sich heraus vollkommen und lassen die in ihnen eingeschlossene, sich ergänzende Polarität erkennen. Eine solch verstandene Vierheit bedarf keiner Erlösung. So ist beispielsweise der physische und geistige Durst nicht wirklich ein Widersacher des Lebens sondern dessen Bestandteil und Erhalter.

Die Vergeistigung der Materie durch Platon und die Materialisation des Geistes durch Aristoteles treten als äußere Widersprüche in Erscheinung. Sie sind aber nur zwei gegenläufige, sich ergänzende Bewegungen. Das Wesentliche ist das sie reflektierende Subjekt (5), das die Entitäten Geist (3) und Materie (4) im „rechten Winkel“ miteinander verbindet (s. Dreieck 3-4-5-6).[iii]

[i] Wörtliche, lineare Übersetzung des masoretischen Textes: „Und-es-schuf  Elohim  den-Menschen  in-seinem-Bild,  im-Bilde  Elohim  er-schuf  ihn; männlich  und-weiblich  er-schuf sie.

[ii] Aus der engführenden Sicht der Kirchen steht Platon für das Konzept der Selbsterlösung. Auch Kant erhebt die eigene Denkkraft zur Grundlage menschlichen Handelns, kann aber deshalb nicht als ein Erlösungsphilosoph bezeichnet werden.

Aus der christlichen Sicht wird Erlösung aus eigener Kraft kategorisch ausgeschlossen.

[iii] Wenn anstatt des Wesens des Subjektes dessen subjektiver Wille in den Vordergrund tritt, dann führt das zu zwei extremen, gegen einander stehenden Aussagen. Die eine ist die der Stoiker, welche die Erlösung darin erblicken, nichts mehr zu wollen. Die andere wird beispielhaft von Nietzsche vertreten, der die Leidenschaften nicht unterdrücken sondern ausleben will. Während erstere daran scheitern, dass das Leben einfach Bedürfnisse entfacht wie Nahrungsaufnahme und Notdurft, die nicht dauerhaft zu unterdrücken sind, scheitert sehr schnell auch das Ausleben jeglicher Leidenschaft an deren Maßlosigkeit.