Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner

Der Feigenbaum, das Feigenblatt und die Feigen

(Feigenblatt + Feigenbaum.docx)

Inhalt

 

1.0  Der Feigenbaum, das Feigenblatt und die Feigen

 

2.0  Die Verfluchung eines Feigenbaums durch Jesus in den Evangelien von MATTHÄUS und MARKUS

   2.1 Die Zweiteilung und Gewalt oder wie MARKUS die Erzählung verschärft

   2.2 Zusammenfassung

   2.3 Eine letzte Klarstellung durch Markus

 

3.0 Die Ordnung der synoptischen Evangelien anhand der Erzählungen vom Feigenbaum

   3.1 Der Feigenbaum und die Ordnung im Evangelium nach MATTHÄUS

   3.2 Der Feigenbaum und die Ordnung im Evangelium nach MARKUS

   3.3 LUKAS, der dritte Evangelist und das Gleichnis vom Feigenbaum

 

4.0 Eine letzte Klarstellung oder die Neubewertung der Zweiheit

Albrecht Dürer: Adam und Eva, 1507

1.0  Der Feigenbaum, das Feigenblatt und die Feigen

 

Das Feigenblatt (hebr. עֲלֵה תְּאֵנָה / aleh teenâh / „Blatt des Feigenbaums“) wird in der biblischen Geschichte vom Sündenfall erwähnt (Gen 3:7). Dort versuchen Adam und Eva vergebens, ihre Geschlechtsteile und ihr aufkommendes Schamgefühl voreinander zu verbergen. Das Symbol des Feigenbaums, sein Blatt und seine Frucht haben für das Verstehen der Schöpfungserzählung eine besondere Bedeutung. Auch werden sie in späteren neutestamentlichen Erzählungen wieder aufgegriffen. Da die erste Erzählung vom Feigenbaum schon in aller Regel nicht verstanden wird, führen dann die weiteren Ausführungen zu hochgradigen religiösen Missverständnissen. So besteht eine große Notwendigkeit, dem Mysterium des Feigenbaumes nachzugehen.

 

Der Feigenbaum ist die erste Pflanze, die einen Namen erhält und auch die einzige Pflanze, die im Schöpfungsbericht der Bibel überhaupt namentlich erwähnt wird. Sie hat die Funktion einer Weiche. Ihre Erwähnung verlangt vom Leser die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem jeweiligen, speziellen Phänomen und dem ihm zugrundeliegenden Archetyp, um den es endlich immer geht. Der Feigenbaum wird umgekehrt zum Symbol für das (Ver)Fehlen dieser Unterscheidung. Vor seiner Erwähnung wurden die Pflanzen nur in ihrer prinzipiellen Existenz angesprochen und es wurde nur zwischen dem einfachen Grünzeug und den zusätzlich samentragenden Pflanzen unterschieden (Gen 1:11f). Die Unterscheidung dient etwas später der sogenannten Nahrungsordnung. Das Grünzeug soll nach göttlichem Beschluss den Tieren als Nahrung dienen und die samentragenden Pflanzen sollen die Nahrung der Menschen sein (Gen 1:29). Aus phänomenologischer Sicht besteht zwischen beiden kein Unterschied. Auch das unscheinbarste Gras trägt endlich Früchte und die Tiere erfassen die göttliche Unterscheidung nicht. Es geht nicht um das Phänomen sondern um das Prinzip, um den Archetyp der Dreizahl, der das Vermögen wiederspiegelt, unterschiedliche Dimensionen zu reflektieren und das durch sie verlangte Vermögen, sich von einer Dimension zur anderen zu erheben.

 

Dem ersten Schöpfungsbericht und seiner Nahrungsordnung folgt der zweite Schöpfungsbericht mit dem Garten Eden und seinen zwei Paradiesbäumen. Die Bäume differenzieren die im ersten Schöpfungsbericht genannte, potentiell menschliche Nahrung weiter. Wiederum ist dabei das Eine von Zweien für die Bewusstseinsentwicklung besonders förderlich. Nur führt die neuerliche Differenzierung nun nicht zur unmittelbar rechten Entscheidung sondern zeigt auf, wie die Spannung der Menschen die Existenz ihrer Gottheit aktivieren und sich sodann feige vor ihr verstecken. Das Prinzip des allgemein fruchtbringenden Baums wird zum Prinzip des speziellen Feigenbaums. Der Baum als Prinzip fordert das Bewusstsein der Menschen vielschichtig heraus.

 

Der Feigenbaum, seine Blätter und seine Frucht sind eine Fortführung der vorab vorgestellten Beziehungen der Pflanzen. Sie sind ein Spezialfall, der in seiner Deutung das Wissen der vorangehenden Pflanzenordnung voraussetzt.

 

Mit dem Essen der verbotenen Frucht überschreiten die Menschen erstmals eine von der Gottheit gesetzte Grenze. In dessen Folge überschreiten sie auch das vorangehende Nahrungsgebot, denn sie nutzen den Feigenbaum nicht, wie von der Gottheit geboten, in Hinblick auf seine Frucht, sondern nutzen ihn in seiner Existenz als „Grünzeug“, das eigentlich zur Nahrung für die Tiere vorgesehen war.

 

Die ersten konkreten Menschen, Adam und seine Frau haben dann aber das grüne Blattwerk eines fruchttragenden Baumes eingesetzt, um ihre neuentdeckte Scham und Blöße zu bedecken. Aus den Blättern flochten sie Schürzen (Gen 3:7). Die von ihnen entdeckte Lust und die durch sie auftretende Spannung war ihnen zu mächtig, als dass sie diese offen zutage treten lassen wollten. Mit dem Anlegen der geflochtenen Schürzen haben sie ihre hinzugewonnene Fähigkeit des Erkennens von Gutem und Bösen einzufangen und abzumildern versucht.

 

Die anschließende Vertreibung aus dem Garten der Wonne mit all seinen Folgen war so jedoch nicht zu verhindern. Die Gottheit hat diese Art des Verdeckens nicht geduldet und hat den Menschen stattdessen Leibröcke aus Fell gemacht. Mit anderen Worten: Außerhalb des Gartens der Wonne hat die Gottheit das missbrauchte Grünzeug des Feigenbaumes durch den Pelz des Lebendigen ersetzt. Auch nannte Adam seine Frau jetzt Eva – das Leben.

 

Das Überschreiten der Grenze machte den Menschen die Polarität von Leben und Tod bewusst. Sie waren aus dem Paradies, das ein Raum des noch wenig entwickelten Bewusstseins war, in die bewusste Wirklichkeit getreten, in der eine Dynamik zwischen Leben und Tod sichtbar wurde. Vor ihren dazu geschaffenen und schambehafteten Geschlechtern befand sich nun ein Fell, das den Tod eines Tieres voraussetzt. In diesem Anblick konnten die Menschen den Tod als Begleiterscheinung ihrer gewollten und jetzt lustvollen Existenz nicht mehr wegdenken.

 

Der Feigenbaum wird in seiner vom Menschen artenentfremdeten Nutzung – der Nutzung der Blätter – an der Grenze von Paradies und Wirklichkeit zum Symbol einer Funktion, die seiner Bewusstseinsentwicklung entgegensteht. War die Frucht einst das Symbol des Erhebens, dass den Menschen dient, so verkehrt sich ihre Wirkung im Bild des Feigenbaumes. Das wird nun auch und zusätzlich zum Symbol des feigen Zurückschreckens. Der Feigenbaum bleibt prinzipiell ein fruchtragender Baum und seine Frucht ein Kriterium der Fortentwicklung. Sie ergreift aber im Fortschreiten der biblischen Erzählungen und der von ihnen illustrierten Bewusstseinsentwicklung der Menschen immer größere Dimensionen, die ohne das Wissen um die Archetypen zu schweren Missverständnissen der geschilderten Phänomene führen.

 

Das Bild des Feigenbaums und seiner zeitweise im Vordergrund stehenden Blätter nimmt das NT in der Erzählung von der Verfluchung eines Feigenbaums auf (Mt 21:18ff; Mk 11:12ff; 11:20f). Um den Vorgang zu verstehen, muss man die Rahmenbedingungen der Erzählung verstehen: Zuvor hatte eine Zweizahl von Jüngern ein „Fohlen losgebunden“. Sie haben im Auftrag des Herrn eine junge, reine tierische Kraft entfacht und sich dabei, wo nötig, sogar über den Besitz der Eigentümer erhoben. Auf dem Weg Jesu von Betanien nach Jerusalem (bei Mk umgekehrt)[1] kommt Jesus durch Betfage, was „Haus der Feigen“ bedeutet. Jesus verspürt Hunger, d.h. er reagiert „aus dem Bauch heraus“ auf das ihm gebotene Umfeld und geht auf den Feigenbaum zu. Da er unbefriedigt bleibt, stellt er die Frage nach der Frucht der Feige in einer neuen Dimension, welche den geistigen Bogen bis zurück in die Genesis spannt. Er antwortet auf das Fehlen der Frucht mit der Verfluchung von dem Aspekt der Natur, die dem angesagten, aufbrechenden Bewusstsein widerspricht.

 

Die in den Evangelien geschilderte Verfluchung des Feigenbaumes durch Jesus ist aus der phänomenologischen Sicht ein Vergehen an der unschuldigen Natur. Aus der umfassenden, archetypischen Sicht schildert sie jedoch die Verfluchung der Feigheit und die Überwindung der Vorherrschaft von Bedürfnissen, die gerechtfertigt aber hierarchisch nachgeordnet sind. Es geht es um die psychische Kraft und Entschlossenheit – den Glauben – ausgelöst durch den Hunger Jesu. Der Hunger muss als eine göttliche, d.h. ganzheitliche und natürliche Kraft gesehen werden – eine besondere Version der Lust. Sie steht für eine höhere Dimension als die der Natur der Pflanze. Sie steht für das Hervortreten des Bewusstseins. Jesus stellt die Kraft nicht ab, wie einst Adam und Eva mit den Feigenblättern. Er lebt sie. Er reflektiert den Tod und geht mit ihm bewusst um. In dieser, seiner Dimension geht es nicht um den Feigenbaum, der „unschuldig sterben“ muss. Schuld ist ein Kriterium des Bewusstseins, um dessen Hervortreten es geht. Der Tod des Feigenbaums ist allenfalls ein Kollateralschaden in der wahrhaftigen Entschlossenheit Jesu, um Kraft und Glaube zu entfalten. Jesu demonstriert seinen Glauben nicht nur in Form dessen Todes. Im eigenen Tod wird er später dieses Bewusstsein auf wahrhaftige Weise beglaubigen.

 

Die Verfluchung des Feigenbaumes ist ein Reinigungsakt, der sich auf das Bedecken der Menschen mit den Blättern aus dem Paradiesfall zurückbezieht. Ihm folgt ein weitergehender Reinigungsakt in Jerusalem. Jesus reinigt den Tempel und verjagt die Wechslern und Händlern, die das Heiligtum missbrauchen und in ihm kaufen und verkaufen.

 

In beiden Reinigungsakten wird das äußere Treiben auf seinen eigentlichen, sinnhaften Kern hin reduziert und freigelegt. Adam und seiner Frau waren die Tiefe und die Bedeutung ihrer Handlungen nicht bewusst. Sie haben sich Feigenblätter und Schürze umgebunden. Den Menschen im Heiligtum waren Tiefe und Bedeutung ihres Aufenthaltes ebenso wenig bewusst. Diesmal jedoch entreißt Jesus ihnen das sie schützende Äußere. Er erlaubt nicht, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trägt und widerspricht darin dessen „mechanischer“ (Be-)Nutzung (Gen 11:16). Die Händler benutzen den Logos auf sie schützende Weise. Sie benutzen die Zahl zum Zählen anstatt auch zum Erzählen. Die wahre Tiefe und Bedeutung des Temples besteht aber im Logos als Zahlenordnung, wie sie das Bauwerk lt. AT beschreibt (s. die Zahlen 1-8 im Tempel Salomos).

 

 

2.0  Die Verfluchung eines Feigenbaums durch Jesus in den Evangelien von Matthäus und Markus

 

Matthäus (21:17-20)

Und er verließ sie und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und übernachtete dort. Des Morgens früh aber, als er in die Stadt zurückkehrte, hungerte ihn. Und als er einen Feigenbaum an dem Weg sah, ging er auf ihn zu und fand nichts an ihm als nur Blätter. Und er spricht zu ihm: Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit! Und sofort verdorrte der Feigenbaum. Und als die Jünger es sahen, verwunderten sie sich und sprachen: Wie ist der Feigenbaum sofort verdorrt?

 

Markus 11:12-14; 11:20f)

Und als sie am folgenden Tag von Betanien weggegangen waren, hungerte ihn. Und er sah von weitem einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und er ging hin, ob er wohl etwas an ihm fände, und als er zu ihm kam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht die Zeit der Feigen. Und er begann und sprach zu ihm: Nie mehr in Ewigkeit soll jemand Frucht von dir essen! Und seine Jünger hörten es.  …   …   … Einschub Tempelreinigung (Mk 11:15-19) …   …   …

Und als sie frühmorgens vorbeigingen, sahen sie den Feigenbaum verdorrt von den Wurzeln an. Und Petrus erinnerte sich und spricht zu ihm: Rabbi, siehe, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.

 

 

Die Erzählung von der Verfluchung eines Feigenbaums durch Jesus kommt nur im Matthäus- und im Markus-Evangelium vor. Um diese Einschränkung und den eigentlichen Inhalt der Erzählung zu verstehen, muss man die Stellung der beiden Evangelien zueinander und ihre Rolle innerhalb der Vierzahl der Evangelien kennen. Das setzt seinerseits das Wissen um die triadische Struktur von Weisheitslehren voraus. Innerhalb dieser Struktur nehmen das erste und das zweite Evangelium (Mt + Mk) eine gegenpolare Position ein. Beide erzählen aus der gleichen linearen Dimension (1—2) heraus, stellen aber das Auszudrückende aus zwei unterschiedlichen Perspektiven vor. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, die Zweiheit und Polarität in ihrer archetypischen Ausrichtung auf die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit zu beschreiben.

 

Der Charakter des jeweiligen Evangeliums wird von zwei Aspekten bestimmt, die aus zwei Wirkrichtungen heraus entstehen. Die eine ist die horizontale Wirkrichtung (↔), die vor allem den Unterschied zum jeweils anderen Evangelium erkennbar macht. Die zweite Wirkrichtung ist eine vertikale (↑↓). Sie entsteht im Blick auf das gemeinsame, höhere Dritte und hinterfragt die aus der horizontalen Beziehung entstandenen Anschein und Handlungen auf deren tiefergehenden Beweggrund.

 

Während die horizontale Unterscheidung der beiden Evangelien aus ihren Erscheinungen heraus schnell erkennbar ist, bedarf die vertikale Unterscheidung eines weitgehenden Rückbezugs zum ersten aller erwähnten Feigenbäume. Den finden wir bei der Schilderung des sogenannten Sündenfalls im Buch Genesis. Ohne das Verständnis der vertikalen Polarität, die sich dort zwischen den Menschen und seiner Gottheit auftut – und droht, vom Feigenblatt verdeckt zu werden -, ist die Botschaft der Erzählung vom Verfluchen des Feigenbaums durch Jesus nicht zu verstehen. In ihr findet sich der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Erzählung.

Zunächst soll hier die horizontale Polarität von Mt und Mk vorgestellt werden. Sie ist schnell und tabellarisch zu erledigen (siehe Tabelle). In beiden Erzählungen ist es der Hunger Jesu, der zum Anlass der Verfluchung wird. Hunger entsteht aus einem Mangel heraus, der in ein zunehmendes Begehren mündet. Der Mangel ist das Merkmal der Polarität und insofern das Wesensmerkmal beider Evangelien. Beide „hungern“ nach einem ihn jeweils Fehlenden.

 

In beiden Evangelien geht es um das rechte Verstehen der Zwei. Zwei bedeutet Mangel. Im Gleichnis vom Feigenbaum äußert sich der Mangel im Hunger und in der Lust auf die Frucht der Feige. Dieses göttliche Verlangen darf nicht durch Feigheit verdeckt werden, wie das im Garten Eden einst Adam und Eva gemacht haben. Jesus der Erlöser greift auf die tradierten Wurzeln zurück. Der Feigenbaum wurde durch das mangelnde Selbstverständnis der Menschen und dem unsachgemäßen Gebrauch seiner Blätter für lange Zeit zum Symbol der Feigheit. Das korrigiert Jesus durch sein besonderes Selbstverständnis, das Eindeutigkeit und Entschlossenheit demonstriert.

 

Das Begehren der Menschen war nicht das Problem, sondern der Umgang mit ihm. Auch Jesus begehrt die Frucht. Begehren und Lust können nicht wirklich unterdrückt werden. Damit sie nicht auch noch in der Lust auf Feigheit münden, musste der Mensch das Paradies verlassen und wurde gewaltsam mit dem Tod von Mensch, Tier und Feigenbaum konfrontiert.


Abb. 3
Matthäus (1) und Markus (2) bilden zueinander eine Polarität (<->). Zugleich haben beide eine subjektive, „einseitige“ Beziehung zum gemeinsamen Dritten.

 

 

 

2.1  Die Zweiteilung und Gewalt oder wie Markus die Erzählung verschärft

 

Markus der Zweite der Evangelisten hat die Feigenbaumerzählung zweigeteilt. Die Tempelreinigung steht in ihrer Mitte und verbindet die beiden voneinander getrennten Teile. Das Heilige und das Reinigen werden damit deutlich zum Kern der Erzählung erklärt. Das ermöglicht es Markus, die ohnehin spannungsgeladene Schilderung noch einmal zu verschärfen. Markus fordert den Leser zu zusätzlichen Reflexionen über die Ereignisse auf. Während Matthäus den Leser die Unfruchtbarkeit des Feigenbaums noch mit irgendeinem Mangel der den Feigenbaum selbst betrifft, erklären lässt und so die Handlung Jesu rechtfertigen würde, ändert sich das bei Markus. Markus tritt einem solchen, erneuten „Griff zum Feigenblatt“ zweifelsfrei entgegen. Er schließt jegliche entschuldigende Erklärung mit dem Zusatz „… es war nicht die Zeit der Feigen“ aus. Die Spannung zwischen Verlangen und Wirklichkeit erreicht ein Maß, das eine Parallele zum Brudermord von Kain und Abel erkennen lässt.

 

Dem Leser bleibt jetzt nur noch, nach einer Kern-Erklärung zu suchen, die übergeordneter Art ist, eine Erklärung, welche die scharfe Polarität stehen lässt, sie aber „fruchtbar erklärt“. Die Antwort findet sich in dem, was im Tempel geschieht und was Markus zur Mitte der Erzählung vom Feigenbaum gemacht hat. Im Tempel weist Jesus das Dingliche und Mechanische in seine Schranken und richtet dessen Existenz am Geistigen aus, denn er „erlaubte es nicht, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trug“. Jesus ordnet die Substanz dem Geist hierarchisch unter. Die Substanz allein ist nun für die Erklärung der Erzählung vom Verfluchen des Feigenbaums nicht mehr zugelassen.

 

Wenn Jesus nach Feigen sucht, obwohl es nicht die Zeit der Feigenfrucht war, dann geht es nicht um die vordergründige, substantielle und profane Frucht. Wohl aber bleibt die Lust der Auslöser des Geschehens. Wer den Vorfall im Garten Eden vergegenwärtigt, erblickt die Existenz von zwei Ebenen des Bewusstseins, die Ebene von Einheit und Ganzheit und die Ebene von Bruch und Gespaltenheit. Im Anblick des ersten Feigenbaums ist plötzlich klar, dass es für Jesus und seine Aufgabe nun „nicht die Zeit der Feigen“ im Sinne des Symbols der Feigenblätter ist. Die Feigenblätter dienten einst dazu, die neu entdeckte Lust und Fruchtbarkeit sowie ihre Notwendigkeit zu verbergen. Jetzt geht es um das Gegenteil! Es geht um bewusste Parteinahme, um „Einseitigkeit“. In ihr wird das Zweimachen im Sinne der Einheit genutzt.

 

Wenn Jesus nach Feigen sucht, obwohl es nicht die Zeit der Feigenfrucht ist, dann konfrontiert Markus den Leser mit dem Gedanken, Jesus könne möglicherweise desorientiert, ungerecht und gewalttätig sein. Dann aber wäre er nicht mehr der Erlöser! Tatsächlich zeigt Markus nur den Widerspruch auf, der die lineare Ebene 1—2 kennzeichnet. In ihr ist die 3 noch nicht mitgedacht. Die Erklärung für den Widerspruch finden wir nicht in der gleichen Dimension, sondern in ihrer vertikalen und prinzipiellen Unterscheidung zu der höheren. Die linearen Verhältnisse leben vom Widerspruch! Dort fehlt immer etwas, das den Hunger treibt. Aus der linearen Ebene heraus kann man immer das „noch nicht“ der Erfüllung feststellen. Aus ihr heraus steht die Erfüllung – „die Zeit der Frucht“ – noch aus.

 

 

2.2  Zusammenfassung

 

Das Verfluchen des Feigenbaums durch Jesus gibt Auskunft, wann und wie ein Subjekt Partei ergreifen muss. Es beschreibt, dass Einseitigkeit notwendig ist. Jesus ergreift Partei für das „Prinzip Frucht“. Bei einer oberflächlichen Betrachtung entsteht der falsche, weil unvollkommene Eindruck, Matthäus und Markus würden mit der Vernichtung des Baumes nur Leben zerstören und zukünftige Fruchtbarkeit verhindern. In Wirklichkeit wird wahre Fruchtbarkeit dadurch erst bewirkt. Die beiden Evangelisten entfalten ihre Erzählungen stets aus solch einer linearen Perspektiven heraus. Das macht Spannungen sichtbar. Als die ersten zwei Evangelisten gehören sie der linearen Erzähler-Ebene (1—2) an und beschreiben deshalb als einzige die Verfluchung des Feigenbaums. Ihre Erzählungen leben von der Abgrenzung, vom Ausschluss und von der Gegensatzbildung. Der Anlass der Handlung Jesu ist sein Hunger – sein Verlangen! Jesus empfindet einen Mangel und verlangt nach dem ihm Fehlenden. Dabei ist das Streben nach Ausgleich und Sättigung seiner Natur nach eine verbindende Dynamik. In den Erzählungen von Matthäus und Markus erscheint das Verfluchen des Baumes jedoch im Gewand einer distanzierenden Dynamik. Tatsächlich aber ergreift Jesus Partei im Sinne einer die Dimensionen übergreifenden Dynamik (3).

 

Jesus findet in seinem Hunger „nichts als Blätter“. Er findet nur die Nahrung für die Tiere! Für sein Bewusstsein ist sie fruchtlos. Gegen diese Fruchtlosigkeit geht er konsequent vor, egal ob es wie bei Matthäus morgens oder wie bei Markus abends ist. Jesus geht ebenso konsequent gegen die Menschen ohne geistige Früchte im Tempel vor. Die denkbar größte Frucht ist die Konsequenz des Glaubens, denn der Glaube übersteigt alles dingliche Sein. Er bewegt es:

 

„Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr solches nicht allein mit dem Feigenbaum tun, sondern, wenn ihr zu diesem Berge sagt: Heb dich und wirf dich ins Meer!, so wird’s geschehen.“ (Mt 21,21-22).

 

 

3.0  Die Ordnung der synoptischen Evangelien anhand der Erzählungen vom Feigenbaum

 

Die drei synoptischen Evangelien folgen in ihrer Anordnung der triadischen Ordnung der Zahlen. Da die Trias die Grundordnung aller Ordnungen ist, werden auch die Evangelien durch sie beschrieben. Jedes der einzelnen Evangelien lebt durch die Trias, d.h. vom Zusammenwirken der drei ersten Archetypen. In jedem finden wir die drei ersten Archetypen. Doch jedes Evangelium übernimmt die ihm nach seiner Position jeweils zukommende Rolle seines Archetyps. So stellt Matthäus vorwiegend das Eine und Ganze vor. Markus treibt das Zwei-Sein und Zwistige auf die Spitze und Lukas greift beide wieder auf und vereint sie zu einem neuen Ganzen.

 

Diese meine dreigegliederten Ausführungen setzen das Wissen um die triadische Ordnung ebenso voraus wie die Kenntnis der Texte der Synoptiker, denn erst ihre Unterscheidung zueinander macht das geordnete Ganze und ihr Zusammenwirken sichtbar. Jenes Zusammenwirken will jede heilige Schrift vermitteln.

 

 

3.1  Der Feigenbaum und die Ordnung im Evangelium nach MATTHÄUS

 

Die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums ist nicht losgelöst von ihrem Kontext zu betrachten. Der beginnt mit der alttestamentlichen Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden und reicht bis zum neutestamentlichen Einzug des Erlösers in Jerusalem. Den besonders bedeutenden alttestamentlichen Zusammenhang habe ich bereits im vorausgehenden Aufsatz „Der Feigenbaum, das Feigenblatt und die Feige“ beschrieben. Der neutestamentliche Kontext ist der vom siegreichen Einzug Jesu in Jerusalem.

 

Der Einzug am Palmensonntag bildet den entscheidenden Rahmen, um die Verfluchung des Feigenbaums durch Jesus auf die rechte Weise deuten zu können. Matthäus berichtet vom Palmensonntag von einer sich offenbarenden Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit. An diesem Tag gipfelt die Würdigung Jesus in der Welt. Die Existenz von Herrlichkeit bedarf der recht verstandenen Zwei, welche auf sie hin orientiert ist und ihr dient. Die so gesehene, umfassende Ganzheit schließt die Zweiheit ein und nicht aus. Deshalb bedient sich Matthäus in seiner originären Aufgabe – der Darstellung der Einheit – ausdrücklich der Zwei und Zweiteilung. Die Erzählungen um den Einzug in Jerusalem, die Tempelreinigung, die Verfluchung des Feigenbaumes und die Frage nach der Vollmacht machen das besonders deutlich. Sie geschehen durch das Zwei-Sein. Alles findet an zwei Tagen statt und auch deren innere Struktur lässt eine Zweigliederung erkennen. Immer wieder setzt Matthäus die Einheit mit Hilfe der Zweiheit ins Bild.

 

In der Beschreibung durch Matthäus bewegt sich Jesus gewissermaßen auf dieser Zweiheit. So zieht er auf einer „Eselin und ihrem Fohlen“ reitend in Jerusalem ein. Selbst das Muttertier, die Eselin ist nicht allein sondern hat das „Zweite“, ihr Fohlen dabei. Auch der siegreiche und scheinbar vollkommene Sonntag ist zweigeteilt, denn gleich nach dem Einzug Jesu in Jerusalem kommt es zur Reinigung des Tempels, einer gewichtigen Unterscheidung (Entzweiung) von geeignetem und ungeeignetem Verhalten. Die so durch Jesu illustrierte Zweisamkeit von Einheit und Zweiheit transportiert die Botschaft, unter welchem Licht die Zwei und das Zweimachen zu verstehen sind. Sie lautet: Der Sieg des Sonntags (1) und die Parteinahme (2) sind nicht wirklich zu trennen. Sie bilden eine Einheit!

Auch der zweite Tag bleibt nicht ohne ausdrückliche Anbindung an den ersten stehen.: „Des Morgens früh aber, als er in die Stadt zurückkehrte, hungerte ihn“ (Mat 21:18). Das Prinzip des „Zurückkehrens“ der Zwei zur Eins, um Einheit zu offenbaren, ist das Mittel der Darstellung von Matthäus.

 

Sonntag ist der erste Tag der Woche. Er ist das Vorbild für den nachfolgenden zweiten Tag.

Die polare Struktur der Darstellung im Matthäus-Evangelium

In ihm kündigt sich an, wie die nachfolgenden Spannungen des Zweiten zu handhaben und zu interpretieren sind. Jener zweite Tag, der Montag ist seinem Archetyp nach ein Zweiter und trägt deutlicher die Kennzeichen der Zwei als schon der erste. Mit der Zwei geht ein Fehlen, ein natürlicher Mangel einher. Er tritt durch den Hunger Jesu in Erscheinung und der wird für ihn zum Anlass, den Feigenbaum zu verfluchen.

 

Matthäus lässt zwischen dem Akt des Verfluchens und dem Verdorren des Feigenbaums keinen Raum der Trennung. Ursache und Wirkung sind ein Ganzes. Dennoch bedarf die Darstellung der Zweizahl. Matthäus setzt das u.a. sprachlich um, indem er zweimal den Begriff „sofort“ gebraucht.

 

Die Verfluchung des Feigenbaumes ist eine Parteinahme, eine einseitig ausgerichtete Handlung. Durch die von Matthäus gewählte polare Struktur wird der Verfluchungsakt in die zweigeteilte Tempelerzählung eingebettet. Ihm voran gehen das Betreten des Tempels und dessen Reinigung. Sie sind sein Vorbild. Dem Verfluchungsakt folgt die Frage der Hohenpriester und Ältesten nach der Vollmacht Jesu. Gegenstand beider Rahmenteile ist die Begründung der Parteinahme. Im ersten Fall ergreift sie Jesus. Im zweiten Fall scheitert die Beantwortung der von Jesus gestellten Frage nach dem Logos an der fehlenden Parteinahme der Hohenpriester und der Ältesten. Sie scheitert ebenso wie einst die Feigenblatt-Handlung von Adam und Eva vor der Gottheit gescheitert ist. Damals hatte die Gottheit die scheinbar unschuldigen Feigenblätter durch die notwendig mit Blut behafteten Lendenschurze aus Tierfellen ersetzt. Jesus korrigiert mit der Verfluchung des Feigenbaumes die Feigheit des einstigen, archetypischen Menschenpaares ebenso wie die der Hohenpriester und Ältesten.

 

Matthäus führt das Prinzip der Unterscheidung in der nachfolgenden Erzählung von den zwei Söhnen weiter aus und fügt ihnen die Parameter hinzu, nach denen unterschieden werden muss. Die Quintessenz der Erzählung von den zwei Söhnen fühlt sich bei Nichtkenntnis des Logos ebenso schockierend an, wie die vorangehende Verfluchung des Feigenbaums. Die Vernichtung der unschuldigen Natur überbietet Jesus in der Erzählung von den zwei Söhnen um ein weiteres in der Aufwertung schuldiger Natur, wenn er vom Vorzug der „Zöllner und Huren im Reich Gottes“ berichtet.[2]

 

Sowohl das Verfluchen unschuldiger Natur durch Jesus als auch die Aufwertung schuldiger Natur bleiben unverständlich, wenn man nicht die deutlich polare Struktur der Erzählungen erkennt und sie für sich alleinstehend und nicht in ihrem großen hierarchischen Kontext betrachtet. Erst die Kenntnis ihrer Beziehungen über zwei Dimensionen hinweg, legt ihren Sinn frei. Die Verfluchung des Feigenbaums bedeutet in diesem Rahmen die Verfluchung des Gewächses der Feigheit.

 

Was der erste Evangelist Matthäus in seinen Erzählungen mit Hilfe der Polarität (1->2) grundlegt, das gipfelt bei Markus, dem zweiten der Evangelisten in einem Zustand, der den Leser dynamisiert (2->3). Bei seinem Streben nach Verstehen und Erheben über die Spannungen aber versagt ihm das Instrument der lineare Logik.

 

 

3.2  Der Feigenbaum und die Ordnung im Evangelium nach MARKUS

 

Obwohl Markus und Matthäus die gleichen, grundsätzlichen Themen behandeln, stellen sie diese auf zueinander polare Weise vor (siehe Tab). Markus geht dabei in seinen Aussagen ein Stück weiter und dringt tiefer in das Geschehen ein. Auch hier ergreift Jesus Partei. Wie bei Matthäus verflucht er den Feigenbaum und setzt darin der Natur Grenzen.

 

Wie Matthäus bettet Markus diese Handlung in die Tempelerzählung ein und gibt ihr so den entscheidenden Deutungsrahmen. Die Struktur der Einbettung unterscheidet sich jedoch von der des Matthäus. Bei Matthäus finden wir eine Zweier-Struktur. Er legt seiner Episodenfolge das Gesetz der Polarität (2) zugrunde. Markus führt sie zu einer klar erkennbaren Dreier-Struktur fort. Was bei Matthäus in zwei Tagen geschieht, das geschieht bei Markus in drei.

 

Das hat für die Interpretation der Erzählungen Konsequenzen. Der Strukturwandel ist der Kern der Aussagen des Markus. Die zutage tretende Triade enthält die Information, dass das übliche linearlogische Denken, wie es der Zahlen- und Zeitstrahl (1-2-3-…) vorgibt, kein Mittel ist, den Sinn der eigenartig erscheinenden Folge der Handlungen und Teilerzählungen zu erfassen. Die markinische Ordnung hat eine triadische Struktur. In ihr tritt der Dimension der Linie die Dimension der Fläche gegenüber. Der Dimensionszuwachs macht das Zusammenwirken von vorher scheinbar nicht zu vereinbarenden Gegensätzen möglich.

 

Wie Markus seine Teilerzählungen nach dem triadischen Muster anordnet, zeigt die Abb. 1-2-30. Den Mittelpunkt bildet das Verfluchen des Feigenbaumes. Das ist eingebettet in das Tempelgeschehen und erstellt zusammen mit dem „Erschauen des Ganzen“ und der „Tempelreinigung“ eine Trias. Jene mittige und triadische Einheit bildet der Montag. Er ist ein Bindeglied und verbindet das Erste mit dem Zweiten, den ganzheitlichen, friedlichen Sonntag mit seinem Gegenpol, dem im anhaltenden Zwiespalt stehenden Dienstag.

 

Das Verfluchen des Feigenbaumes, das den Mittelpunkt der Erzählungen bildet, hebt sich aus allem heraus. Es hebt sich aus dem Erwarteten heraus und lässt die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit bis zur Unerträglichkeit anschwellen. Der Zustand verlangt nach dem Erscheinen einer neuen Dimension, wie sie in der Herausbildung des Dreiecks sichtbar wird. Aus der neuen, triadischen Sicht stehen sich die vorherigen Gegensätze dann nicht mehr unvereinbar gegenüber. Sie entwickeln über das Prinzip der Addition (1+2 = 3) eine neue, verbindende Sicht. Die Gegenpole sind dann nicht mehr nur solche, sondern bauen sich gegenseitig ergänzend, ein neues Ganzes auf.

1-2-30 Die triadische Struktur der Darstellung im Markus-Evangelium

Die weitergehende Differenzierung durch Markus hat zwei Seiten. Zum einen führt sie zu weiteren Details. Zum anderen drohen mit der zunehmenden Oberfläche im Auge des Betrachters die tiefergehenden Zusammenhänge verlorenzugehen. Das wird in der den Palmensonntag einleitenden Erzählung vom Fohlen deutlich. Jesus hat es durch zwei seiner Jünger aus dem „gegenüberliegenden Ort einfach „losbinden und wegführen“ lassen. Der Übergriff auf den Besitz anderer wird von jedem als ungeheuerlich empfunden. Der Vorgang erzeugt Emotionen, die schnell übersehen lassen, dass bei Matthäus noch die Rede von einer Eselin und ihrem Fohlen ist. Markus hingegen erwähnt nur noch das Fohlen und nicht mehr dessen Wurzel, die Eselin.

 

Die Aussagen des Markus werden polarer und damit extremer. Das Verfluchen und Verdorren des Feigenbaumes wird von einem Tag bei Matthäus auf zwei Tage bei Markus gedehnt. Das Verdorren des Feigenbaums ergreift nun auch dessen Wurzel. Die Dehnung und Erweiterung der Oberfläche schlägt sich in der detaillierten Begründung nieder, dass der Baum keine Früchte trug, weil es schlicht „nicht die Zeit der Früchte war“. Der Leser ist endgültig entsetzt. Bei Matthäus war die Spannung zwischen dem aggressiven Verhalten Jesu und der Natur noch irgendwie vernünftig erklärbar. So kann beispielsweise ein Feigenbaum mitunter auch Früchte aus zwei Blütezeiten an einem Stamm tragen. Die mögliche Annahme, der Baum sei generell unfruchtbar und damit schädlich für den Boden, zerrinnt mit der nachgelieferten Begründung durch Markus. Markus entreißt dem Leser auch noch das letzte „Feigenblatt“. Jetzt war der Feigenbaum wirklich verdorrt „von den Wurzeln an“. Der im linear-logischen Denken verfangene und emotional aufgewühlte Leser muss seine Denkebene verlassen und sich dem symbolischen Gehalt des Feigenbaums zuwenden. Seit dem Zugriff des archetypischen Menschenpaares Adam und Eva auf die Blätter des Feigenbaums ist dieser inhaltlich mit Feigheit vor der Wahrheit belegt. Der Leser wird regelrecht genötigt, sich den Wurzeln seiner Existenz zuzuwenden.

 

Die von Markus weitergetriebenen Differenzierungen haben – aus der nunmehr triadischen Sicht heraus – zwei Seiten, welche der Leser reflektieren muss: Das Trennende und das Vereinigende, das Tiefergehen und die Oberfläche. Beide haben ihren Platz. Das Vollkommene an der Erzählung des zweiten Evangelisten, an Markus ist, dass er der Zwei seine endgültig zerstörende Eigenschaft nimmt und sie der Einheit und Ganzheit unterordnet. Er machte es, indem er das Prinzip des Zweimachens an seine natürliche Grenze führt. Die Bilder von der fehlenden „Zeit der Frucht“ und vom „vollständigen Verdorren von den Wurzeln an“ nehmen den Leser weitestgehend die Möglichkeit, doch wieder zum Feigenblatt zu greifen anstatt die eigene Fruchtbarkeit zu leben, welche die gewohnten Grenzen überschreitet.

 

Markus ergreift dieses Prinzip, das wie die Abb. 1-2-3 zeigt, mehr als nur eine Dimension umfasst, in besonderer Weise. Er bettet die Erzählung vom Verfluchen des Feigenbaumes wie schon Matthäus in die Erzählung vom Heiligtum (Tempel) ein, lässt die so entstehende Aufspaltung dann aber nicht einsam stehen sondern macht sie zum Kern ein neuen Trias. So entsteht nicht nur eine triadische sondern auch eine fraktale Struktur. Fraktale machen Einheit sichtbar, eine Einheit, die von Anfang an – allerdings weitgehend unerkannt – vorhanden war. Sie hat übergeordnete Bedeutung, analog dem ersten Tag, dem Palmensonntag, den Markus als einen vollkommenen, einheitlichen Tag vorstellt, der frei von Zweifeln ist. Das gilt auch für den ersten Teil des zweiten und mittleren Tages, dem Montag, an dem Jesus in den Tempel „einzieht“ und „ringsum auf das Ganze schaut“ (11:11). Er erblickt die Ordnung (12) und geht sodann mit seinen Jüngern nach Betanien.

 

Erst dann – nach dem umfassenden Überblick – verflucht Jesus am zweiten Tag den Feigenbaum. Seine Handlung ist also keineswegs eine emotionale Kurzschlusshandlung. Das Verfluchen des Baumes ist nur eine vorweggenommene Zusammenfassung seines Entschlusses, den er sodann im Reinigen des Tempels ausführt.

 

 

3.3  LUKAS, der dritte Evangelist und das Gleichnis vom Feigenbaum

 

 

Lk 13,1-9    Zu dieser Zeit waren aber einige zugegen, die ihm (Jesus) von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Schlachtopfern vermischt hatte. Und er (Jesus) antwortete und sprach zu ihnen:

Meint ihr, dass diese Galiläer vor allen Galiläern Sünder waren, weil sie dies erlitten haben?

                     (n. Luther: „… dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer…“)[3]

((1)) NEIN, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht umdenkt[4], werdet ihr alle ebenso umkommen. Oder jene 18[5], auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete: meint ihr, dass sie vor allen Menschen, die in Jerusalem wohnen, Schuldner waren?

                               (n. Luther: „… dass sie schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?“)

((2)) NEIN, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht umdenkt, werdet ihr alle ebenso umkommen.

 

((3)) Er sagte aber dieses Gleichnis: Es hatte jemand einen Feigenbaum, der in seinem Weinberg gepflanzt war; und er kam und suchte Frucht an ihm und fand keine. Er sprach aber zu dem Weingärtner: Siehe, 3 Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum und finde keine. Hau ihn ab! Wozu macht er auch das Land unbrauchbar? Er aber antwortet und sagt zu ihm: Herr, lass ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn graben und Dünger legen werde! Und wenn er künftig Frucht bringen wird, <ist gut,> wenn aber nicht, so magst du ihn abhauen.

 

Die Erzählungen von der Verfluchung des Feigenbaums kommen nur im Matthäus- und im Markusevangelium vor. Ihre Botschaften werden im Lukasevangelium im Gleichnis vom Feigenbaum aufgenommen und weiter entfaltet, ohne dabei die frühere, polarisierende Verfluchung durch Jesus direkt zu thematisieren.

 

Bei Matthäus und Markus standen die Spannungen der Erzählungen im Vordergrund und sie haben sie auf polare Weise erzählt. Schon bei ihnen wurde dem Leser klar, dass die Erzählungen nur durch eine triadische Herangehensweise wirklich zu verstehen sind. Fehlt eine solche, so wirken die Handlungen Jesu emotional, willkürlich und sogar ungerecht gegenüber der unschuldigen Natur. Unter Einbeziehung der archetypischen Zusammenhänge und damit einer ganzheitlichen Betrachtung, ändert sich das Bild. Die Handlungen Jesu erscheinen sodann in einem umfassenderen Kontext. Sie werden verstanden und sogar als notwendig erkannt. Obwohl der größere Kontext schon bei Matthäus und Markus durchscheint, bleibt ihre Aufgabe, die notwendige Polarität hinter den Erzählungen ins Bild zu setzen. Das reicht dem Dritten, Lukas nicht mehr. Seine Darstellungen übersteigen denen von Matthäus und Markus. Lukas fügt sie zu einem Dritten und Größeren zusammen. Das gelingt ihm durch eine neue Dimension, eine zeitliche Dehnung der Ereignisse. Das zuvor unerträglich Erscheinende fächert Lukas zeitlich auf und rechtfertigt es jeweils in einzelnen Handlungssträngen und ihren Kontexten.

 

Das lukanische „Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum“ ist eingebettet in eine größere Erzählung. Lukas geht es dabei nicht um die Spannung selbst sondern um die Wirkmächtigkeit (3) der Subjekte (5) die bewusst gelebt werden will und dem Gesetz nach gelebt werden muss. Lukas erhebt sie zum Gegenstand seiner Erzählungen. Auch im Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum sind es die Widersprüche (2) aus denen notwendig eine Funktion (3) erwächst. Es geht um das spezielle So-Sein und dessen Fruchtbarkeit.

 

Vor dem Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum finden wir deshalb andere Gleichnisse, welche die Unterschiedenheit von „Sicht-Ebenen“ aufzeigt und sie an einer ganzheitlichen Funktion wägt. Lukas erhebt sich über die subjektiven, Partei ergreifenden Sichten vereinigt sie in den handelnden Subjekten seiner Gleichnisse. Dem Gleichnis vom Feigenbaum gehen gezielt die Gleichnisse vom „treuen und untreuen Knecht“ (Lk 12:35-53)[6] und die Erzählung der „Entzweiung um Jesu willen“ voraus. Das Gleichnis von den Knechten ergreift die einfache Polarität von recht und unrecht (treu und untreu) und überführt sie in eine Dreizahl von Knechten, indem er das Unrecht (Untreue) weiter differenziert in wissentliches und unwissentliches Unrecht. Dem rechten und treuen Knecht stehen sodann zwei unrechte und untreue Knechte gegenüber, der wissentlich unrecht handelnde und der unwissentlich unrecht handelnde Knecht. Ihnen muss unterschiedlich begegnet werden.

 

Das Unterscheiden und Zusammenführen von Polarem (2) und Triadischem (3) macht das Subjekt (5) aus, um dessen Tun es am Ende immer geht. Das führt Jesus in seiner Rede von der „Entzweiung um seinetwillen“ (Lk 12:49 ff)[7] aus. Sein Tun und das Tun um seinetwillen ist ein rechtes und verbindliches Tun. Das Gleichnis und seine Botschaft gehen gezielt dem Gleichnis vom Feigenbaum voran. Es illustriert den rechten Umgang (3) mit der Polarität (2) und schafft die Grundlage zum Verstehen des Gleichnisses vom unfruchtbaren Feigenbaum. Das rechte Tun ist ein Tun, das weder von Feigheit noch von Aktionismus beherrscht wird.

 

Dem Gleichnis vom Feigenbaum stellt Lukas in einem Satz unmittelbar ein Bild voran, das im Leser unvermeidbar Zwist und Zwietracht (2) als Gräuel aufruft: „Zu dieser Zeit waren aber einige zugegen, die ihm von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Schlachtopfern vermischt hatte.“ (Lk 13:1). Die Gegnerschaft zu den Galiläern hatte Pilatus, der 26-36 n.Chr. in Judäa und Samaria Kaiserlicher Statthalter war, veranlasst, einige seiner Feinde wie Tieropfer zu behandeln. Lukas zeichnet mit seinen Worten ein Bild von extremer, kaum zu ertragener Polarität, welche regelrecht nach einer die Spannung lösenden Dynamik schreit. Die vorgegebene Zeit der Handlung wird als eine besondere, eine „teilhaftige Zeit“ formuliert. Die Formulierung „einige, welche zugegen waren“ umreißt den Zustand des „Nicht-Ganz-Seins“ und benennt darin den Archetyp der Zwei. Der aber erfordert im lukanischen Bild das Hervortreten der Drei in ihrer verbindenden Funktion.

 

Der Text erfasst das Trennende (2) und zugleich Verbindende (3) mit zwei Wörtern, welche beide sowohl die Spannung (2) als auch deren Funktion (3) aufrufen: „vermischen“ und „Blut“. Blut symbolisiert die das Leben ausmachende, verbindende Funktion. Auch das „Vermischen“ ist eine Funktion. Nur wird sie hier vom Hörer oder Leser im ersten Moment negativ gedeutet, da Pilatus Menschsein und Tiersein gleichsetzt. Das bestürzt. Es bestürzt ebenso wie einst das Verfluchen des Feigenbaums durch Jesus bei Matthäus und Markus. Tatsächlich verurteilt Jesus das Handeln des Pilatus nicht. Pilatus hat das für ihn notwendig vergossene Blut rituell eingebunden und sein Tun geheiligt. Dieser für den Leser ungeheuerliche Vorgang ist nicht weniger als die Eröffnungserzählung für das Gleichnis vom Feigenbaum.

 

Jesus beschreibt anhand des Beispiels, wie die Gottheit mit Menschen umgeht, die sich nicht bemühen, das gestörte Verhältnis zu ihr wieder zu erstellen und ihr Denken nicht auf sie hin „umkehren“. Das ist der große Rahmen, in dem das Gleichnis gedeutet werden will. Man kann ihn auf zweierlei Weise verfehlen. Die eine ist Ablehnung durch Feigheit wie Adam und Eva es mit den Feigenblättern getan haben. Die andere ist Ablehnung durch Aggression, wie sie durch Nichtwissen vom Logos in der Fehldeutung vom Verdorren des Feigenbaums aufkommt.

 

Bei Lukas geht es um das verbindende Dritte. Die Zweiheit und Polarität (2) ist der Steigbügel für die Funktion (3). Auf letztere kommt es an. Die Polarität hat in Bezug zur alleinigen Existenz des Einzelnen und Abgegrenzten (2) keinen dauerhaften Wert. Sie zieht ihren Wert aus der Hinrichtung zur Ganzheit (1), die sie über die Funktion des Verbindens (3) mit dem bis dahin Ausgeschlossenen erhält.

 

Lukas geht es um Hierarchie und Zusammenhang der Archetypen 2 und 3 in seiner besonderen Gewichtung der 3. Das Gleichnis vom Feigenbaum beginnt deshalb mit zwei furchtbaren Erscheinungen, dem blutigen Opferritual und den 18 Opfern beim Umfallen eines Turmes. Jesus benutzt zwei Verneinungen. Das eigentliche Gleichnis vom Feigenbaum ist dann das von Jesus erzählte, verbindende Dritte. Es erklärt das Wesen der Drei und ihrer rechten Funktion.

 

Die erste Verneinung ((1)) stellt mit Hilfe der Zahl 18 die Notwendigkeit vor, sich über die Welt der Polarität zu erheben. Das Geschehen ist nicht mehr aus der Sicht des Einzelnen und Abgetrennten zu beurteilen. Die Zahl 18 ist in der triadischen Zahlenstruktur der Gipfelpunkt dieser Polarität und das Subjekt dort potenziell im Besitz ihrer Weisheit. Die 18 ist eine Wegscheide zwischen dem „Einsturz“ einerseits und der Grenzüberschreitung zum Jenseitigen und Geistigen andererseits (s. Aufsatz zur 18)

 

Die zweite Verneinung ((2)) räumt den Zweifel daran aus, dass es einen anderen Weg zum Leben gibt, als die Hinwendung zur Gottheit – die Parteinahme.

 

Der dritte Punkt ((3)), das eigentliche Gleichnis vom Feigenbaum verbindet die Auffassung vom Umhauen (2) des Baumes mit der doch möglichen Fruchtbarkeit. Auch wird die notwendige Bedingung für die Fruchtbarkeit genannt: Es ist zum einen das „dritte Jahr“, in dem entschieden wird, und es ist das durch den Entscheid erfolgende „Umgraben“ und „Düngen“. Wer düngt, der fügt Fehlendes hinzu, so, wie in der Polarität die Eins der Dünger der Zwei ist und umgekehrt. Wer „umgräbt“, der stellt einen ringförmigen Graben um den Baum her, der das Fehlende, den Dünger aufnimmt. Der Kreis ist das Symbol für die Gottheit, die Einheit und Ganzheit, die stets der Maßstab für das Entscheiden und das Tun sein müssen.

 

Bei der ausführlichen Beschreibung der rechten Dynamik lässt das Gleichnis jedoch keinen Zweifel an der Notwendigkeit der Existenz von Gegensätzen (2) aufkommen. Es lässt darüber hinaus auch keinen Zweifel aufkommen, dass es einen Punkt gibt, an dem das Kriterium der Fruchtbarkeit möglicherweise die Vernichtung des unfruchtbaren Gewächses verlangt. Solche Vernichtung hat Jesus im Gleichnis von der Verfluchung des Feigenbaumes in der Erzählung von Matthäus und Markus vorgenommen. Durch Lukas werden sie einsichtig.

 

Lukas erklärt und verbindet die Darstellungen von Matthäus und Markus. Zu ihnen bildet er wiederum eine Polarität, eine Polarität höherer Ordnung, welche die Polarität 1—2 zur Polarität I–II werden lässt (siehe Abb. Polarität und Trias). Während bei den ersten beiden Evangelisten die Bäume noch unmittelbar vernichtet werden, erhält der Feigenbaum des Lukas durch rechtes, „düngendes“ Verhalten eine Chance.

 

 

4.0  Eine letzte Klarstellung oder die Neubewertung des Archetyps Zwei

 

Die drei synoptischen Evangelien berichten in der Person Jesu vom Weg des Bewusstseins. Es ist ein Weg aus der Erdperspektive. Lukas, der dritte Evangelist greift die Erzählungen von Matthäus und Markus auf und verbindet aus einer erhabenen Position heraus, wie sie ihm als einen Dritten zukommt. Dennoch gehört auch der Dritte dem Sein auf der Erde an, denn all ihre Erscheinungen sind triadischer Natur.

 

Das Wesen der Trias ist die Neubewertung der gegenüber der Eins abgefallenen Zwei. Die Trias befreit aus der möglichen Gefangennahme durch die Linearität. Da die Erzählungen vom Feigenbaum sich in besonderer Weise einer negativen Sicht auf ihn bedienen, darf eine heilige Schrift die ausgleichende, positive Sicht auf ihn nicht unterschlagen. Wir finden sie in allen drei synoptischen Evangelien in einer zweiten Erzählung, dem Gleichnis vom Feigenbaum. In ihr zeigt der Feigenbaum den nahenden Sommer an und ist somit positiv besetzt:

 

Mt 24:32f und Mk 13:28f

Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis: Wenn sein Zweig schon weich geworden ist und die Blätter hervortreibt, so erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. So sollt auch ihr, wenn ihr dies geschehen seht, erkennen, dass es nahe vor der Tür ist.

 

Lk 21;29ff

Und er sprach ein Gleichnis zu ihnen: Seht den Feigenbaum und alle Bäume! Wenn sie schon ausschlagen, so erkennt ihr von selbst, da ihr es seht, dass der Sommer schon nahe ist. So erkennt auch ihr, wenn ihr dies geschehen seht, dass das Reich Gottes nahe ist 

 

Der Feigenbaum erfüllt zwei Funktionen, die negative und die positive. Mit der zweiten erhält er seine Neutralität zurück. Seine zweifache Erwähnung und Neubewertung ist zugleich eine Neubewertung des vermeintlich Negativen und der Zwei an sich. Mit der zweiten Bewertung wird die scheinbar negative Zwei der allgegenwärtigen Ganzheit untergeordnet.

 

Die von Jesus verwendeten Worte erklären vor allem den hinter allem Geschehen stehenden Logos und die durch ihn mögliche, neue Sicht auf den Archetyp der Zwei. Die Begriffe des „Weichwerdens“ und des „Blattwerks“ sind Metaphern für das Wesen der Zwei. Jesus lässt sie nicht für sich stehen, sondern macht sie zu Zeichen des Hervortreibens und damit zu Zeichen der Dynamik (3). Mittels des Archetyps Drei lässt er die Zwei im Bild des Sommers aufscheinen, der seinerseits für die Vierheit im Sinne einer ganzheitlichen Manifestation (4) steht. Der Sommer und seine lichtdurchtränkte Vollkommenheit ist in der Sprache Jesu ein Abbild des vollkommenen Gesetzes – des Logos.

 

Die nochmalige Erwähnung des Feigenbaums und die in ihr stattfindende, ganzheitliche Neubewertung der Zwei geschehen jeweils nach dem Einzug Jesu in Jerusalem. Zu dieser Zeit befindet er sich auf dem Höhepunkt seiner weltlichen Macht und Anerkennung. Zugleich wird er vom Logos genötigt, seine Aufgabe zu erfüllen und endgültig selbst den Weg der Zwei zu gehen. Das bedeutet, sich aufzugeben und völlig in die Einheit und Ganzheit einzugehen. Zuvor hatte er sein Wissen darum in einer Reihe von Belehrungen weitergegeben. In der sogenannten Endzeitrede greift Jesus im Gleichnis mit dem Sommer ein letztes Mal auf das Symbol des Feigenbaums zurück.

 

Das Wissen um die rechte Zweiheit ermöglicht es dem Leser der Texte, die hinter der Zwei stehenden Ganzheit – in deren Dienst sie steht – wirken zu lassen. Der Kontext der Erzählung vom Feigenbaum berichtet besonders deutlich von der dienenden Funktion der Zwei. In allen Details greift Jesus auf das Symbol der Zwei in ihrem noch unvollendeten Zustand zurück. Vor der Verfluchung hatte Jesus zwei seiner Jünger losgeschickt, ein unbenutztes, d.h. ein noch völlig „der Ganzheit (1) zugehöriges“ Fohlen loszubinden, dass „im Dorf gegenüber noch angebunden sei“. (Mt 21:1f, Mk 11:1f; Lk 19:33f). Die zwei Jünger handelten zunächst „gegen den Willen“ seiner Besitzer. Die Begründung für solches „Zweimachen“ ist klar und einfach (1): „Der Herr braucht es“. Die Erklärung ist ganzheitlich, denn das Wesen der Eins ist die unauflösbare Vollkommenheit. Sie greift und bleibt ohne Widerspruch. Markus artikuliert sie mit der Begründung, dass in der Eins – dem Herrn –  nichts verlorengeht und die Jünger das Fohlen zurückbringen werden.

 

Der sodann auf der Zwei, dem losgebundenen Fohlen bzw. auf dem Vierbeiner sitzende Jesus erhebt sich über die Linearität (1—2) bzw. über das Tier (Vier) und zeichnet darin das zweidimensionale Bild des Dreiecks mit seiner sich erhebenden Drei bzw. das dreidimensionale Bild einer Pyramide, deren erhebender fünfter Punkt das ganzheitliche Bewusstsein ist.

 

Jesu wird auf dem Tier reitend gehuldigt. Ihm werden die Symbole der Zweiheit in Form von Palmenzweigen und Kleidern zu Füßen gelegt. Die Huldigung gilt seinem hohen Bewusstsein. Es ist das Bewusstsein über den Logos und der äußert sich wiederum in der Zahl Vier, in welcher die Neubewertung des Zwiespalts und des Archetyps der Zwei sichtbar wird. Die Vier ist die Tür zum Erkennen des Logos. Sie ist die Aufforderung und die Bedingung für das Reich Gottes.

 

Der Begriff „Tür“ (hebr. Daleth) ist in der hebräischen Bildsymbolik gleichbedeutend mit der Zahl Vier. In ihr erhält die Zwei den ihr zukommenden rechten Platz und wird nicht mehr als bloßer Widersacher und Zerstörer gesehen.

 

Bei Matthäus und Markus gebraucht Jesus im Gleichnis vom Feigenbaum den Begriff der „Tür“ als er als er vom Reich Gottes spricht (s.o. Mt 24:32f + Mk 13:28f). Bei Lukas spricht Jesus an dieser Stelle sodann unmittelbar vom „Reich Gottes“ (s.o. Lk 21;29ff).

 

Die Häufigkeit und der Ort, an dem der Begriff der „Tür“ in den Evangelien vorkommt, sind wohl gewählt. Sie berichten von dessen aufschließender Qualität. Matthäus benutzt ihn viermal und es ist auch Matthäus, der mit der 4. Erwähnung ausdrücklich die „unvermeidlich auferstehenden“ Umstände schildert, die sein Wesen ausmachen: Die Tür ist große Stein, mit dem Josef von Arimathäa das Grab Jesu verschließt (Mt 27:60). Die Hohenpriester, Pharisäer und Pilatus versiegeln den Stein und stellten auch noch eine Wache vor dem Grab auf. Sie, die Widersacher des Reich Gottes versuchen, durch „Versiegeln und Wachen“ den Tod dauerhaft zu manifestieren. Doch kann ein solcher Umgang mit der Zwei und dem Prinzip des Manifestierens (4) nicht gelingen, denn das Zweimachen steht letzten Endes immer im Dienst der Einheit. Das will Jesus offenbaren.

 

Im Gleichnis vom Feigenbaum benutzt Matthäus den Begriff „Tür“ zum zweiten Mal als es um die in der Zwei liegende, aufwärtsgerichtete Kraft in Form der weichwerdenden Zweige geht und der Sommer nahet. Markus entwickelt die bei Matthäus beschriebenen Verhältnisse weiter und verschärft sie. Bei ihm begegnen wir den Begriff der „Tür“ insgesamt siebenmal. Das bedeutende vierte Mal allerdings finden wir wiederum im Gleichnis vom Feigenbaum. Immer zeigt die in der Vier veränderte Erscheinung der Zwei den „herannahenden Sommer“ an. Sie eine Metapher für das Reich Gottes.

 

[1] Siehe Abb. 3: Die Polarität der Evangelien nach Matthäus und Markus

 

[2] Das Gleichnis von den zwei Söhnen kommt nur bei Matthäus vor. Es hebt die bei ihm im Vordergrund stehende Botschaft von der Unterschiedenheit in der Einheit hervor. Beide Söhne erfüllen nicht oder nicht gänzlich den Willen des Vaters. Beide Söhne haben – eben weil sie Söhne und somit  „Zweite“ sind – einen Mangel. Zwischen beiden besteht eine Hierarchie in der Nähe zu ihrem Vater. Deren Maß ist die Wahrhaftigkeit und nicht die äußere Erscheinung, sondern die tatsächliche Funktion. Das führt dazu, dass Jesu den Huren einen Vortritt im Reich Gottes zuspricht.

 

[3] Jesus wendet sich hier gegen einen direkten Tun-Ergehen-Zusammenhang. Die Galiläer wurden nicht wegen eines persönlichen Vergehens getötet, sondern weil sie Galiläer und Feinde waren. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang umfasst die höhere Dimension – hier das Tun der Galiläer. Zahlensymbolisch wird nicht die einfache lineare Spannung 1—2 thematisiert sondern die, welche zwischen der einfachen linearen Ebene (1-2) und der höheren Dimension, der 3 entsteht (1-2—3).

 

[4] In den üblichen Übersetzungen finden wir hier den Begriff der „Buße“, das Bemühen um die Wiederherstellung eines gestörten Verhältnisses zur Gottheit. Das biblische Verständnis des Begriffs ist ideologisch schwer belastet. Deshalb verwende ich hier den Begriff „umkehren“ im Sinne von „umdenken“, der das griechische Ursprungswort „metanoia“ (μετάνοια) inhaltgerechter wiedergibt.

 

[5] Die Zahl 18 beschreibt den Gipfelpunkt der Polarität, das Erwachsen-werden und die durch sie sichtbar werdende Notwendigkeit zur Tat. (siehe Aufsatz über die 18 (18.docx).

 

[6] Gleichnis von treuen und untreuen Knechten   (Lk 12: 35-53)

Eure Lenden sollen umgürtet und die Lampen brennend sein! Und ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen mag von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich öffnen. (Beachte den Begriff der Hochzeit, der die Polarität der Geschlechter 1ßà2 anspricht, die ihrer Vereinigung und somit Erhebung harren. Das „Öffnen der Tür“ ist ein Symbol für das Erheben im Sinne des Eröffnens eines größeren Raumes.)

Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird! Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich umgürten und sie sich zu Tisch legen lassen und wird hinzutreten und sie bedienen. (Beachte den Begriff des „dienen“, der die wahre Wirkung der Drei beschreibt, denn die 3 dient der 1 und der 2.)

Und wenn er in der zweiten Wache (II) und wenn er in der dritten Wache (III) kommt und findet sie so – glückselig sind jene! (Beachte das Zusammenspiel von II und III. In neutestamentlicher Zeit galt die griech.-röm. Einteilung der Nacht in vier Nachtwachen:  Abend / Mitternacht / Hahnenschrei / Morgen. Die vier Einheiten bestanden aus je drei Stunden.)

Dies aber erkennt: Wenn der Hausherr gewusst hätte, zu welcher Stunde der Dieb kommen würde, so hätte er gewacht und nicht erlaubt, dass sein Haus durchgraben würde. Auch ihr, seid bereit! Denn der Sohn des Menschen kommt in der Stunde, da ihr es nicht meint.

Petrus aber sprach zu ihm: Herr, sagst du dieses Gleichnis zu uns oder auch zu allen?

Der Herr aber sprach: Wer ist nun der treue und kluge Verwalter, den der Herr über sein Gesinde setzen wird, um <ihm> die zugemessene Speise zu geben zur <rechten> Zeit? (Beachte, dass Jesus die Frage nach der allgegenwärtigen Polarität hier auf die Ebene der Subjekte (5) überträgt. Die Frage der Jünger „… für uns oder die anderen“ beruht auf linearem Denken im Sinne von „entweder-oder“ und würdigt nicht die Funktion hinter dem Geschehen, wie das die archetypische und triadische Sicht erfordert.)

((1.  Der recht handelnde Knecht))              Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, bei solchem Tun finden wird! In Wahrheit sage ich euch, daß er ihn über seine ganze Habe setzen wird.

((2.  Der unrecht handelnde Knecht))          Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr lässt sich Zeit mit dem Kommen, und anfängt, die Knechte und Mägde zu schlagen und zu essen und zu trinken und sich zu berauschen, so wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß, und wird ihn entzweischneiden und ihm sein Teil festsetzen bei den Ungläubigen.

     ((2a.  Der wissend unrecht handelnde Knecht)) Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn wusste und sich nicht bereitet, noch nach seinem Willen getan hat, wird mit vielen geschlagen werden.

     ((2b.  Der unwissend unrecht handelnde Knecht)) Wer ihn aber nicht wusste, aber getan hat, was der Schläge wert ist, wird mit wenigen geschlagen werden.        Jedem aber, dem viel gegeben ist – viel wird von ihm verlangt werden; und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man desto mehr fordern.

Beachte, dass die Einteilung hier sowohl eine polare als auch eine triadische ist.

 

[7] Die Rede von der Entzweiung um Jesu willen (Lk 12:49 ff):

Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wünschte ich, es wäre schon angezündet! Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss, und wie bin ich bedrängt, bis sie vollbracht ist! Denkt ihr, dass ich gekommen sei, Frieden auf der Erde zu geben? Nein, sage ich euch, sondern vielmehr Entzweiung. Denn es werden von nun an fünf in einem Haus entzweit sein; drei mit zweien und zwei mit dreien; Es werden entzweit sein Vater1 mit Sohn2 und Sohn mit Vater, Mutter3 mit der Tochter4 und Tochter mit der Mutter, Schwiegermutter5 mit ihrer Schwiegertochter und Schwiegertochter mit der Schwiegermutter.

Beachte: Das Subjekt existiert immer in der Polarität und somit in der „Entzweiung“. Ihre Existenz begründet sich in ihrer Stellung gegenüber der Einheit. Die Polarität hat eine horizontale als auch eine vertikale Dimension (1—2  bzw.  I—II). Getragen wird sie vom Subjekt, von der Fünfzahl. Die unterschiedlichsten Polaritäten entstehen nach wie vor aus 5 Subjekten: Vater, Sohn, Mutter, Tochter und Schwiegermutter.

 

Er sprach aber auch zu den Volksmengen: Wenn ihr eine Wolke von Westen aufsteigen seht, so sagt ihr sogleich: Ein Regenguss kommt. Und es geschieht so. Und wenn der Südwind weht, so sagt ihr: Es wird Hitze geben. Und es geschieht. Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels wisst ihr zu beurteilen. Wie aber kommt es, dass ihr diese Zeit nicht zu beurteilen wisst? Warum richtet ihr aber auch von euch selbst aus nicht, was recht ist? Denn wenn du mit deinem Gegner vor die ((1)) Obrigkeit gehst, so gib dir auf dem Weg Mühe, von ihm loszukommen, damit er dich nicht etwa zu dem ((2)) Richter hinschleppe; und der Richter wird dich dem ((3)) Gerichtsdiener überliefern und der Gerichtsdiener dich ins ((4)) Gefängnis werfen. Ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

Beachte: Das Nichtbeachten der höheren Dimension, deren Erkennen im Subjekt angelegt ist, ist Heuchelei! Durch sie wird etwas manifestiert (4), das von sich aus zwar dem Archetyp der Vier und damit dem Archetyp des Vollkommenen entspricht, aber dessen Vollkommenheit nicht geachtet wird. „Erst wenn der letzte Pfennig gezahlt ist“, ist Vollkommenheit erstellt (siehe Abb. Polarität und Trias)

 

Polarität und Trias

Die höhere Dimension, die Dimension der Fläche schließt zwei Polaritäten, die horizontale und die vertikale Polarität ein.