Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner
Die „vierbeinige“ Eintagsfliege des Aristoteles
(Fliege Aristoteles.docx)
Inhalt:
- Die Behauptung eines Phänomens und ihre Absicht
- Die zwei Seiten des Phänomens
- Das wahre Problem: Die Eins und die ihr nachgeordnete, aber notwendige Zwei
- Die Quintessenz des Symbols „Fliege“
- Nachtrag
- Die Behauptung eines Phänomens und ihre Absicht
Der große Denker Aristoteles lässt sich in seiner Tierkunde I.491 über die Eintagsfliege aus und schreibt: „Dieses Tier hat nicht nur die Besonderheit seiner Lebensdauer, die sich in seinem Namen ausdrückt, sondern ist auch ein Vierfüßer mit vier Flügeln.“
Jedes Insekt hat sechs Füße. Sollte Aristoteles das nicht gewusst haben? Auffällig ist zudem, dass Aristoteles von der Eintagsfliege spricht und nicht von der gemeinen Stubenfliege, die allgegenwärtig und für jeden zu beobachten ist. Die Antwort ist für unser Verständnis von Wahrheit so einfach wie verstörend. Aristoteles ging es nicht primär um die Beobachtung. Eine Beobachtung ist immer relativ auch wenn Common sense zwischen den Beobachter über die geltenden Wahrheitskriterien besteht.
Eine Beobachtung ist ihrer Natur nach abhängig vom Bewusstsein des jeweiligen Beobachters. Das weiß auch die heutige Naturwissenschaft. Sie erhebt sie aber auch zu recht zu ihrem Hauptkriterium. Doch tut sie das nicht auf die ihr abstrakt möglichste, sondern in einer linearlogischen Weise, in der nicht das abstrakte Prinzip sondern das beobachtete Phänomen den Mittelpunkt bildet. Aristoteles ging es um mehr. Es ging ihn um die Beschreibung eines universellen Gesetzes. Auch seine Beschreibung setzt fraglos ein Bewusstsein voraus, das immer ein subjektives ist. Aristoteles aber trägt der Universalität des Gesetzes Rechnung, indem er das Gesetz auch als Grundlage für der Konstitution des Bewusstseins würdigt und seine allgegenwärtige Polarität berücksichtigt. Die Eintagsfliege ist nicht nur eine profane Fliege sondern in dem von ihm vorgestellten Kontext der Repräsentant eines einfachen, lebenden Wesens mit geringem Bewusstsein. An ihm kann ein höheres Bewusstsein dessen Polarität und zugleich auch dessen ihm innewohnende Ausrichtung an einer universell wirkenden Einheit und Ganzheit erkennen.
Heute wie damals ist die entscheidende Frage, ob es universelle Gesetze gibt, die in jedem noch so verschieden erscheinendem Phänomen wirken und die ihrer Natur nach unveränderbar sind? Diese Wirklichkeit im eigentlichen Wortsinn ist der Gegenstand der Philosophie im Allgemeinen und der Metaphysik im Besonderen. Auch wenn die Naturwissenschaft diese Frage nicht mehr in dieser Radikalität stellt, geht sie ihr doch voraus. Die Naturwissenschaft dient ihrer Herkunft nach der Frage nach der Natur des Bewusstseins. Wenn sie die Beobachtung der Phänomene zum zweifelsfreien Kernpunkt ihres Tuns erhebt, dann entfernt sie sich von sich selbst und von der Frage nach der Konstitution des Bewusstseins. Als Folge zerreibt sie sich in der Dualität der Wirklichkeit.
- Die zwei Seiten des Phänomens
Die Behauptung des Phänomens, die Fliege hätte vier Füße hat gleich zwei bemerkenswerte Seiten. Zum einen ist es mehr als unwahrscheinlich, dass ein Denker wie Aristoteles nicht wusste, dass alle Fliegen sechs Füße haben. Nicht wenige der umtriebigen und meist lästigen Tiere sind mit Sicherheit auch Aristoteles sehr nahegekommen und mehr als nur einmal über das von ihm beschriebene Pergament gelaufen. Wie sollte einem so großartigen Denker die tatsächliche Anzahl der Fliegenbeine entgangen sein! Wir wagen deshalb die wenig mutige These, dass Aristoteles in seiner Aussage über „vierbeinige“ Fliegen eine metaphorische Botschaft transportiert. Seine intelligenten und in vielerlei Geheimnisse eingeweihten und ausgesuchten Leser und Zuhörer kannten nicht nur alle Fliegen und sie waren vor allem mit den von Platon vermittelten Weisheiten vertraut. Wir hingegen müssen diese erst neu und aufwendig erschließen. Im Wesentlichen geht es um das rechte Verstehen des Wesen der Zwei, des Zwistes, des Zwiespaltes, des Abartigen und Anderen, das nicht aus der Welt zu schaffen ist und das in der Vierzahl, dem Quadrat der Zweizahl und dem sogenannten Logos, Einsicht in das Ganze gibt.
Diese Macht der Zwei ist es auch, welche das zweite Phänomen der scheinbar vierbeinigen Fliege erklärt. Die Autorität der zwiespältigen Aussage des Aristoteles hat in späteren Zeiten eine ungeahnte Macht entfaltet. Es ist eine Macht der Trägheit. Was in der Natur der Dinge die Trägheit der Substanz (4) ist, das ist auf der Ebene des Bewusstseins (5) die Autoritätshörigkeit. Die Gelehrten haben das „Wissen um die vier Füße der Fliege“ einfach über Jahrhunderte hinweg weiterverbreitet, obwohl es jedem, ein wenig aufmerksamen Menschen möglich war – ja, es sich ihm nahezu aufgedrängt hat – die vor ihm existierende Wirklichkeit wahrzunehmen. Doch zu unserem großen Erstaunen kennt die Literatur niemandem, der den Widerspruch aufgegriffen und nachhaltig hinterfragt hätte, um die wahre Botschaft des Aristoteles zu empfangen. Die Lehre des Aristoteles wollte ihre potentiellen Empfänger mobilisieren. Bei denen, welche die Lehre Platons kannten, fruchtete der Logos und sein Additionsprinzip. Bei denen nach ihnen gewann die Zwei und der Zwiespalt Vorrang gegenüber der Einheit und Ganzheit, was sich in Trägheit und Autoritätshörigkeit niederschlug. So wurde Aristoteles bis ins 14. Jahrhundert hinein neben der Bibel die Autorität schlechthin.
- Das wahre Problem: Die Eins und die ihr nachgeordnete, aber notwendige Zwei
Die Bibel beginnt mit zwei sich scheinbar wiedersprechenden Schöpfungserzählungen und konfrontiert ihren Leser darin mit dem Prinzip des Widerspruchs. Sie lässt ihn damit aber nicht allein, sondern gibt ihm zuvor ein Werkzeug an die Hand, dessen Genialität er im Laufe der Zeit erst kennenlernt. Vor den Schöpfungserzählungen existiert eine Präambel, welche bereits alle die ihr folgenden Weisheiten in einem Gesetz zusammenfasst. Die Präambel besteht aus genau vier Sätzen. Ihre Botschaft ist: Die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit manifestiert sich in der konkreten Erscheinung der Vierzahl. Im Wissen um ihr Wesen wird sich das aus ihr bildende Bewusstsein erheben. Das Voranstellen einer solch konzentrierten Weisheit ist bei heiligen Schriften üblich. So gibt es in der altpersischen Mythologie ein erstes, lichtfeindliches Prinzip namens Ahriman, das sich in Gestalt einer Fliege in die Welt schleicht. Derartige Eingangsbemerkungen bilden die Weisheitslehre des Aristoteles mit verschiedenen Bildern auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen ab. Sie alle beschreiben die erste aller denkbaren Beziehungen, die Beziehung der Zweiheit und Gespaltenheit (2) zur Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (1).
Das Bewusstsein und sein Verstand streben nach Einsicht in die Zwiespältigkeit der Dinge. Die einheitliche Schau eines Ganzen ist das höchste Ziel des Verstandes. Doch die Welt ist eine Welt der Polaritäten. Die Einheit erreicht das Bewusstsein nur in der Schau einer Trias. Nur ihr entspringt das Ding (4) an sich, das zum einen eine Substanz (4) ist, die erst durch die Polarität (2) existiert und zum anderen doch die zueinander getrennten Pole als Einheit wahrnehmbar macht. Diese „gegenständliche“ (2) Substanz (4) ist nichts anderes als eine Erscheinung der vom Menschen ersehnten Einheit (1). Die Mitte des Daseins ist die Einheit, doch ist sie gegenständlicher Natur. Das Bewusstsein des Menschen will jene eine Mitte anschaulich machen und es macht es über eine Formel, die ich mit der Formel 1-4 bezeichne, die aber viele Namen hat.
Aristoteles hat dieses primitive Dasein an der Metapher der Eintagsfliege verbildlicht. Trotz ihrer sichtbar perfekten Existenz besitzt das Tier kein oder nur ein minimales Bewusstsein, weshalb er es auch einen „Gegenstand“ (4) nennt. Die in dem „Gegenstand Fliege“ existierende Ganzheit und Vollkommenheit drückt sich durch zwei gegenläufige „Wirkmechanismen“ aus, die zusammen die größere Ganzheit bilden. Die Fliege verbindet zwei zueinander in Hierarchie stehende Dimensionen, die Ebene der Fläche und die Ebene des Raumes. Das verbindende Element ist das der Vier. Nach unten ist es die Vierzahl der Füße und nach oben die Vierzahl der Flügel. Die vier Füße der (Eintags)Fliege sind keine phänomenologischen, wohl aber prinzipielle. Aristoteles weiß um den Widerspruch. Er weiß mehr. Er weiß um den Widerspruch des Bewusstseins. Wenn alles durch die Polarität existiert, dann existiert auch das Bewusstsein durch sie. Es steht nicht außerhalb von ihr sondern in ihr. Wenn es die Einheit ansichtig werden lassen will, dann kann es dies nur in der Polarität, also mit Hilfe des Widerspruchs. Aristoteles führt den Widerspruch, der endlich kein wahrer ist, in der Erzählung von der „vierbeinigen“ und vierflügeligen Eintagsfliege offensichtlich vor. Er führt die Lösung des Bewusstseins in ihrem eigenen „Medium“ in ihrem Widerspruch vor. Aristoteles ist nach unserem Verständnis von Wissenschaft nicht exakt. Er ist es nicht, um wahrhaftig zu sein.
Die Zwei dient der Eins. Der Widerspruch dient der Einsicht. Die absolute Gleichheit kennt die Natur nicht. Nicht einmal ein Sandkorn ist identisch mit einem anderen. Deshalb sind die zwei Kirchtürme der gotischen Kathedralen entweder unmittelbar sehr unterschiedlich gestaltet, wie in Chartres, oder ihre äußere Gleichheit ist eine scheinbare, deren Unterschiede nur bei genauer Betrachtung erkennbar werden, wie das in Notre Dame de Paris der Fall ist. Das Muster solcher Symmetrie ist das Prinzip aller Existenzen und der Mensch setzt es wissentlich und sichtbar um.
Arabische Teppichweber weben absichtlich Web- und Musterfehler in die ansonsten perfekte Symmetrie der Ornamente ein. Das Nichtbeachten dieses ersten Prinzips führt zum Entgleisen des Bewusstseins. Die Metaphorik besagt: Der Teufel ist ein Pedant. Die perfekte Gleichheit drückt Vollkommenheit aus und erzeugt dessen Eifersucht, in deren Folge das Werk der Zerstörung anheimfällt.
Die Ungleichheit ist in Wirklichkeit Gottesverehrung. Die Zwei dient der Eins. Die Zwei macht durch ihre eigene Existenz die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit sichtbar. Dieser eindeutige Zusammenhang ist allgegenwärtig. Nur das besondere, gottgleiche Unterscheidungsvermögen des Menschen kann ihn konterkarieren. Der Mensch kann den Unterschied, die Abweichung dazu benutzen, um Einheit und Einsicht zu vermeiden. Dann führt er die erstrebte Einsicht bewusst in die Irre. In der Kirchengeschichte finden wir dafür genügend Beispiele. Aber auch die Wissenschaftsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte von unschuldigen aber gut gemeinten Irrtümern. So war es beispielsweise bei den Mathematikern ein alter Brauch, in die Veröffentlichung ihrer Entdeckungen Fehlangaben einzufügen, um ihre Rivalen an der wahren Einsicht zu hindern. Der berühmte Streit zwischen Leibniz und Newton über die Entdeckung der Integralrechnung drehte sich um einen solchen Tatbestand. Einstein rechtfertigte einmal jenes Vorgehen damit, dass die Erbauer von Kathedralen nach deren Fertigstellung auch nicht das Gerüst ihrer Erbauer würden stehen lassen.
- Die Quintessenz des Symbols „Fliege“
Die Fliege ist ein lebendes Wesen und besitzt als solches ein Bewusstsein. Das erscheint an den Herausforderungen des Menschen gemessen primitiv. Doch nimmt der Mensch in solcher Einfachheit das wahr, was Bewusstsein ausmacht. Es ist polar und darin imstande, sich über die „lineare Dimension der Welt“ zu erheben. In ihrem Anblick reflektiert er den Unterschied in den Dimensionen und endlich auch den Unterschied zwischen Wissen und Weisheit. Der allerdings lässt sich auch für den der Sprache mächtigen Menschen oft nur metaphorisch fassen, wie dies bei der „vierbeinigen“ Eintagsfliege des Aristoteles geschehen.
Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens finden wir in Bezug zum unbewussten Wesen der Fliege eine solche Metaphorik: Wem bei einer Christmette eine Fliege in den Mund gerät, muss in dem Jahr darauf sterben.[1] Mit anderen Worten: Wer es trotz seines heiligen Auftrags der Fliege nachtut und sich geschickt erhebt, ohne die Gesetze der Schöpfung seinem Bewusstsein nach angemessen zu beachten, ist dem Tod geweiht und stirbt wie die „Eintagsfliege“. Der Mensch erfasst die Gesetze der Schöpfung über den Logos – über das Wissen um das Wesen der Zahl 4. Wer das kennt, der kennt die Macht der Polarität und ihre göttliche Funktion und der erkennt sie in allem Sein – auch in der Erdung und dem Erheben der Fliege, in ihren „vier Beinen“ und ihren vier Flügeln.
Die Quintessenz der Fliegenmetaphorik ist das Potential des Erhebens. Schon in der klassischen Literatur benennt Lukian (120-180 n.Chr.) in seiner „Lobrede auf die Fliege“ nicht nur deren sechs Beine sondern verweist auf das in ihr sichtbar werdende Aufwärtsdrängen: „Sie hat zwar sechs Füße, geht aber nur auf vieren und gebraucht die beiden vorderen als Hände. Und man sieht sie öfters auf den Hinterfüßen stehend, etwas zu Essen in den Händen haltend, gerade wie wir Menschen es zu machen pflegen“ (in der WIELANDschen Übersetzung). Lukian weiß um die sechs Füße der Fliege und er weiß um die unterschiedlichen Dimensionen und die aus ihnen entstehende Dynamik. Er führt sie in seinem Tun seinen Lesern sogleich vor Augen und macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, nicht in einer linearen Logik zu verharren sondern zu einer triadischen fortzuschreiten: „Ich hätte noch vieles über einen so reichen Gegenstand zu sagen; aber es ist Zeit, aufzuhören, damit ich nicht, wie das Sprichwort sagt, aus einer Fliege einen Elefanten zu machen scheine“.
- Nachtrag
Die vier- und sogar achtbeinige Fliegen gibt es heute wirklich. Der Mensch hat sie hervorgebracht. Es sind Mutanten der gemeinen Drosophila, der Taufliege. Ihre Schöpfer, Christiane Nüsslein-Vollhardt, Eric F. Wieschaus und Edward B. Lewis erhielten für die dazu notwendige Entdeckungen den Nobelpreis für Medizin.
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Literatur:
„Die Fliege des Aristoteles“, erschienen in der Zeitschrift Chimia der Neue Schweizerische Chemische Gesellschaft (SSN 0009-4293), Chimia 49 (1995) 479-485
https://www.ingentaconnect.com/content/scs/chimia/1995/00000049/00000012/art00002?crawler=true
[1] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band II, Eds. E. Hoffmann-Krayer und H. Bächtold-Stäubli, Walter de Gruyter & Co., Berlin-Leipzig, 1929/30. S. 1621ff.