Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner

1.) Der Dialog, die Triade und die Aporie und ihre scheinbare „Ausweglosigkeit“

2.) Vom Mythos zum Logos – vom Erzählen zum Zählen

(PLATON Dialog Aporie Mythos.docx)

  1. Der Dialog, die Triade und die Aporie und ihre scheinbare „Ausweglosigkeit“

Das Verfahren Platons ist die Dialektik mit der Anwendung der Polarität von Argument und Gegenargument. Die Methode nötigt dazu, immer wieder die Gegenposition zu erörtern und arbeitet sich so in der Erkenntnis fortlaufend empor. Alle Dialoge Platons führen zunächst zu einer gemeinsamen Übereinkunft, gewissermaßen zu einer angenehm empfundenen „Linearität“ der Dinge. Doch dann stellt Platon in einem nächsten, dritten Argument diese gleich wieder zugunsten einer neuen, anders orientierten Linearität in Frage. Was hier als Fortlaufendes empfunden wird, ist keine wirklich fortlaufende Linearität im Sinne des Zahlenstrahles. Vielmehr erzeugt Platon mit dem dritten Argument eine neue Spannung und Polarität zwischen der ursprünglichen Argumentationsebene und einer neuen.  Auf diese Weise demonstriert er den Bruch in der Linearität als etwas Positives und Fruchtbares. Platon vollzieht in seiner Dialektik die archetypische Dynamik des Dreiecks nach. Was dabei jeweils als Linearität erscheint, besteht in Wirklichkeit im Einzelnen immer aus einer Zweiheit von Argumenten. Zwei solcher, hierarchisch zueinander geordneter Linearitäten führen zu einen Ebenenwechsel in der Betrachtung. Vollzieht der Leser der Dialoge diesen nicht nach, so verfängt er sich in einen Zustand der Ausweglosigkeit. Mit den „dinglichen Argumenten der einfachen Ebene“ lässt sich der Konflikt nicht mehr lösen. Die Ausweglosigkeit ist in Wirklichkeit eine Aporie und die beinhaltet mehr, als nur eine Ausweglosigkeit. Sie bezeichnet eine vorübergehende Ratlosigkeit, welche eine neue Dynamik in Gang setzt und damit die Dynamik der Triade einfängt.

Die Triade enthält zwei zueinander hierarchisch geordnete Gegensätze
1—2 und I—II

Die Fortsetzung des linearen Weges unter Beibehaltung der Argumentationsebene führt zu keinem Ausweg aus der Situation. Die Dialoge Platons sind so voller Ironie. Ironie ist hier nicht zu verwechseln mit Zynismus. Die Ironie wie der Zynismus zeichnen sich durch eine besondere Art der Polarität und Distanznahme zu dem Geschehen aus. Bei der Ironie ist sie wohlwollend. Beim Zynismus hingegen kehrt sie ins Gegenteil um und lebt vom Herabsetzen des Geschehens, also vom Herabsetzen der vorhandenen Polarität.

Im Grunde geht es bei den Platonischen Dialogen und ihren Aporien um das Herausarbeiten des umfassenden Charakters der Zweiheit  und ihrer archetypischen Wirkung aufgrund ihrer unauflöslichen Bindung an die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (1—2). Mit anderen Worten geht es um das Erkennen von Linearität und Bruch, zwei Erscheinungsformen der Zweiheit.

Die platonischen Texte demonstrieren das Gesetz der Triade, d.h. sie vollziehen die ersten drei archetypischen Beziehungen nach. Das betrifft sowohl die formelle als auch die inhaltliche Ebene. Was schon die Form des Dialogs zum Ausdruck bringt, wiederholt sich im größeren Maßstab auch in den verwendeten Bildern und Mythen.

2.)  Vom Mythos zum Logos – vom Erzählen zum Zählen

Die Weisheiten der Vorzeiten wurden vorwiegend durch den Mythos weitergegeben. In der griechischen Philosophie haben sie dann eine deutliche Rationalisierung erfahren, die wir bereits in den Philosophien der Vorsokratiker finden. Schon sie trieb die Fragen an: Was ist das, was ist – das Seiende? Gibt es so etwas wie einen Urstoff? Ihre Antworten waren Teilantworten, welche uns keine umfassende und nachvollziehbare Ordnung erkennbar machten. Das änderte sich mit Pythagoras. Seine Antwort „Alles ist Zahl“ war besonders nachhaltig. Auf ihr beruht die gesamte Philosophie Platons, die ihrerseits eine ungebrochene Wirkungsgeschichte hinterließ. Keine wirkliche Ontologie und Metaphysik kommt, konsequent zu Ende gedacht, ohne sie aus. Das Zahlenwissen wurde zur Grundlage der abrahamitischen Religionen. Erst das Abrücken von der Existenz jeglicher Ontologie, wie es Emanuel Kant versuchte, trennte die qualitative, erzählende Seite von der zählenden Seite der Zahl.[i] Seitdem wird die pythagoreische Lehre nicht mehr erörtert und mit dem Argument abgetan, sie wäre obsolet und dem Zeitgeist geschuldet. Obwohl sie nahezu in Vergessenheit geriet, bleibt ihre Wirkungsgeschichte ebenso gewaltig wie der durch die Naturwissenschaften beförderte Siegeszug der Zahlen. Letzterer brachte die Hypothek der Spaltung von Qualität und Quantität mit sich. Zahlen hatten nun nur noch eine zählende und keine erzählende Seite mehr. Dessen ungeachtet veränderten sie die Welt und bewirkten, dass Wissen methodisch ausweisbarsein muss. Es muss rational verantwortbar sein, d.h. es müssen für die Argumente sichere Gründe angegeben werden können. Sie werden durch Zahlen angegeben oder über eine Strenge belegt, die nur den Zahlen eigen ist. Es ist die Ironie des Schicksals. Wir nehmen den Wert und die Herrschaft der Zahl in den Wissenschaften zur Kenntnis und die Philosophen sind nach wie vor von der Frage bestimmt, was denn die Prinzipien sind, welche die Wirklichkeit konstituieren? Doch im Sinne einer Ontologie, d.h. zu einem konkreten Konstitutionsgrund stoßen wir nicht vor. Würden wir den Konstitutionsgrund an der pythagoreischen Wurzel packen und die Weisheit der Triade zur Anwendung bringen, würde uns diese Aporie auf eine neue Betrachtungsebene führen.

Platon hat die Ideenlehre begründet und die Verbindung vom Mythos zum Logos erstellt. Die Verbindung ist aber nicht, wie ihn der viel genannte Satz „Vom Mythos zum Logos“ glauben macht, als ein einfacher, linearer Übergang zu verstehen, bei dem der bis dahin vorherrschende Mythos vom aufkommenden Logos verdrängt und ersetzt wurde, weil er schlichtweg überflüssig war. Eine solche lineare Denkweise war gerade nicht die Platons, im Gegenteil. Platon dachte triadisch, wie er es in all seinen Dialogen zeigt. Danach wird ein einmal Existierendes durch sein Gegenteil herausgefordert und auf eine neue Erkenntnisebene gehoben. Der so genannte dialektische Vorgang setzt eine Entwicklung in Gang. Dessen Ergebnis ist wiederum eine Spannung, eine neue Polarität, die sich auf gleiche Weise emporschraubt. Der Leser der eine eindeutige Antwort im Sinne einer ewigen Wahrheit sucht, empfindet den neuen Zustand als Aporie und übersieht die in ihr angebotene Weisheit. Das vorher bereits Vorhandene erhält in den platonischen Texten in der neuen Erkenntnis immer einen Platz. So erklärt es sich, dass auch Platon bei den wesentlichen Erkenntnissen schließlich wieder auf den Mythos zurückgreift, wie es das Höhlengleichnis, das Liniengleichnis und das Sonnengleichnis zeigen.

Am Ende ist jeder Dialog und jeder Diskurs das Beispiel für eine Triade, eine Funktion und Bewegung, welche beschrieben wird. Jedes von Platon vorgestellte Prinzip wird durch sie konstituiert. Selbst das erstrebte, höchste menschliche Bewusstsein, um dessen Herausbildung es geht, folgt ihr. So ist ein weiser Mensch einer, der nicht nur weiß, sondern auch weiß, was zu tun ist!

[i] Kant lässt die Gewissheit und den Glauben an eine Ontologie fallen! Er wird deshalb immer wieder als der „Zertrümmerer“ der Ontologie, Vollendung, Erlösung, Gottesbeweise usw. bezeichnet. Die Ontologie stirbt mit dem Satz: „Das Ding an sich“ ist nicht erkennbar.

Zwar geht Kant davon aus, dass wir wissen, was gut ist, dass das Gute (1) die Grundlage des Seins ist und dass das Gute gegenüber dem Nichtguten in unserer Vorstellung von den Dingen (4) einen Vorrang hat. Doch zeigt er keine bildlich erfassbare Ordnungsstruktur auf, wie wir die beiden Widersacher, das Gute (1) und das Nichtgute (2) als eine in sich geschlossene Einheit zusammendenken können, wie dies beispielsweise die Mathematik und die Geometrie tun. Ironischerweise setzt Kant aber die Trias zum Zwecke seiner Darlegung ein, wie das seine drei Kritiken zeigen. Er würdigt sie aber nicht als Fazit als die Ordnung gebende Struktur.