Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner
Unterschiede zwischen Platon und Aristoteles und die rechte Lesart ihrer Schriften
(Platon versus Aristoteles.docx)
Inhalt:
- Platon, Aristoteles und die sie verbindenden Archetypen
- Das pythagoreische Dreieck und die Linearität
- Ideenlehre versus Substanzlehre:
- Die unterschiedliche Art der Beschreibung
- Körper versus Seele
- Erlösung versus Vollendung
- Glück: Gerechtigkeit und Ehrlichkeit versus Lust
1 Platon, Aristoteles und die sie verbindenden Archetypen
Das Verhältnis von Aristoteles zu seinem Lehrer Platon, dessen Schüler er 20 Jahre lang war, bleibt unverstanden, wenn man nicht das Wissen um die Archetypen mit ihnen teilt, das die Grundlage der Akademie war. So anerkennt Aristoteles nicht nur die Archetypen als die Realität des Allgemeinen, sie sind vielmehr Grundlage seines philosophischen Angebots. Er wendet sie praktisch an. Sein Einwand richtet sich nur gegen die Behauptung, sie würden selbständig existieren, da ihre Inhalte in den sinnlichen Dingen liegen und so nichts anderes seien als „verewigte Sinnesdinge“.
Seine Kritik gegen Platon leitet er mit einer Vorbemerkung ein: „Platon ist Freund, aber die Wahrheit ist mehr Freundin.“[i] (Nikomachische Ethik 1, 4). Will man verstehen, was Aristoteles damit aussagt, so gelingt das nur über das Wesen der Triade, denn wenn beide Denker auch nur eines miteinander verbunden hat, dann das Wissen und die Weisheit um die ersten vier Archetypen.
Betrachtet man den Widerspruch der beiden Philosophen im Bild zweier sich widersprechender Pole eines Dreiecks, so wird ihre Aufgabe deutlich. Die zwei gegenpolaren Formen (1—2) sind jede für sich genommen notwendigerweise unvollkommen, drücken aber gemeinsam eine höhere, gemeinsame Wahrheit (3) aus. Selbst so etwas Grundsätzliches wie die Archetypen existiert nicht losgelöst vom jeweils betrachtenden Subjekt. Erst dessen Ergänzung durch ein Gegensubjekt bringt das größere Ganze hervor (3). Das weiß Aristoteles, und er stellt seine Kritik ausdrücklich in diesen Kontext:
„Man darf einen Mann nicht höher als die Wahrheit schätzen, vielmehr muss, was ich zu sagen habe, gesagt werden.“ Aristoteles lässt dabei keinen Zweifel aufkommen, dass auch sein eigenes (Gegen-) Angebot so zu verstehen ist: „Es scheint aber vielleicht besser, ja sogar Pflicht zu sein, zur Rettung der Wahrheit auch das Eigene hinten anzustellen, zumal wir ja Philosophen sind. Denn da (die, welche die Ideen eingeführt haben)[ii] beide uns nahestehen, ist es doch heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben“ (1096a14–17).
Die „heilige Pflicht“ ist primär keine persönliche oder gar moralische. Zu dieser wird sie erst sekundär durch die Einbettung des Subjekts in seiner ganz konkreten (Um-) Welt. Sie ist vielmehr eine metaphysische Pflicht, denn sie ist in der Ordnung der Archetypen verankert. Das Subjekt (5) ist immer ausgespannt zwischen dem Geist (3) und der Substanz (4). Es kann gar nicht anders als Geist und Substanz miteinander zu verbinden, denn durch die Verbindung beider entsteht das Subjekt und konstituiert sich. Es bleibt nur ein Stück weit offen, WIE es sich konstituiert? Mit anderen Worten: Ob es die Verbindung bewusst und auf rechte Weise vollzieht?
- Das pythagoreische Dreieck und die Linearität
In Unkenntnis und so Missachtung der Qualität der Dreizahl entwickeln wir bezüglich der Schriften Platon und Aristoteles eine unvollkommene und falsche, weil entzweiende Lesart. Anstatt die auftauchenden Polaritäten (2) unter dem Aspekt einer verbindenden Gemeinsamkeit (3) im Sinne einer weiterführenden Differenzierung des Vorhandenen zu lesen, interpretieren wir das Andere und Gebrochene (2) als etwas Absolutes, als hätte es einen beziehungslosen Eigenwert.
Es ist unser Bewusstsein, unsere Grundhaltung, welche unbemerkt das falsche Ergebnis vorwegnimmt. Im Falle der Auslegungsgeschichte von Platon und Aristoteles wird das besonders deutlich. Aristoteles war nicht nur einfach der Schüler Platons. Er war es 20 Jahre lang! Vergessen wir dabei das Entscheidende nicht: Die Triade, „ … die richtige Kenntnis der Eins, der Zwei und der Drei ...“ waren die Denkgrundlage in der Akademie. [iii] Das war der Logos, mit dem sich auch Aristoteles identifizierte.
Wie alle Missverständnisse beruhen auch die Missverständnisse in der Interpretation der Werke Platons und Aristoteles auf der Vortäuschung von Linearitäten nach dem täuschenden Vorbild des Zahlenstrahles (s. gesonderter Aufsatz Linearitäten). Wie Linearitäten zu verstehen und zu werten sind, zeigt uns das geometrische Gleichnis des pythagoreischen Dreiecks in dem die Zahlen 1 bis 6 fortlaufend vorkommen (Abb. xxx). Sie führen uns – sehr einfach betrachtet – die Linearität des Zahlenstrahles vor Augen. Tatsächlich aber bilden – differenzierend betrachtet – nur die Linien 3, 4 und 5 eine Linearität im engeren Sinn. Allein diese lineare Folge ist etwas Besonderes und beeindruckt den Geometriekundigen. Das zusätzliche Auftauchen der Zahlen 1, 2 und 6 lassen sodann in seiner Vorstellung auch noch die „Linearität 1 bis 6“ aufscheinen, obwohl die Zahlen 2 und 6 keine Linie sondern eine Fläche kennzeichnen.[iv]
Für den gewöhnlich zwischen einem Anfang und einem Ende existierenden und linear denkenden Menschen ergibt sich eine dimensionsübergreifende Erkenntnis: Der Bruch – der Bruch der Dimension – ist ein Bestandteil der uns bekannten Linearität! Wir begegnen ihm erstmals in der Unterscheidung zwischen dem Archetyp 1 und dem Archetyp 2. Er konstituiert das erste Verhältnis. Im oben beschriebenen geometrischen Gleichnis konstituiert er das Verhältnis zwischen dem Radius (1) und der Fläche (2) des vom Kreis umschlossenen Quadrats. Der Bruch (2) und sein Verhältnis zur Einheit entwickeln sich fort und scheinen in jedem Archetyp neu auf. So konstituiert er schließlich das Verhältnis der linear erscheinenden Welt von Geist (3) – Materie (4) -Subjekt (5) und der aus ihnen emergierenden Dimension der Fläche (6).
Die Botschaft des Dreiecks ist die aller Religionen, nämlich die „Botschaft von Bruch und Linearität“. Es ist der Bruch, die Zweiheit und Gegensätzlichkeit (2), welcher unter dem Eindruck der Einheit (1) anders und umfassender verstanden werden muss und der auch die Schriften von Platon und Aristoteles als ein gemeinsames, geordnetes Ganzes erkennen lässt. Der Archetyp der Zweiheit (Bruch) entsteht nicht aus dem Nichts sondern aus der ihr vorangehenden Einheit mit der er sodann ein größeres Ganzes bildet. Für sie steht das Symbol der Zahl 12. In ihr fügen sich beide Teile, 1 und 2 zu einem geordneten Ganzen unter Würdigung der natürlichen Hierarchie zusammen.
Mit diesem Wissen sollte man die heute als historisch angesehenen Überlieferungen zu Platon und Aristoteles nach ihren möglichen symbolischen Gehalt hinterfragen: Aristoteles hat erstaunlicherweise die Akademie nach dem Tod Platons nicht übernommen. Er verschwindet vielmehr ohne sichtbaren Grund für 12 Jahre und begründet danach eine eigene Schule, das „Lyceum“.[v] Zwischen Platon und Aristoteles, steht die Zahl 12. Sie hat etwas Trennendes und etwas Verbindendes. Sie trennt und verbindet die Ideen- und Archetypenlehre (das Geistige, die 3) Platons mit der Substanzlehre (die Substanz, die 4) des Aristoteles. Die ihre Philosophien einende Zahl 12 findet ihre symbolische Parallele im Umfang des Dreiecks, welches das Subjekt (5) in seiner Ausspannung zwischen Geist (3) und Materie (4) beschreibt (s. Abb. XXX).
Es ist die Unkenntnis der Archetypen, welche die nach Platon kommenden Philosophen eine scheinbar unüberbrückbare Differenz zwischen den Lehren Platons und denen seines Schülers Aristoteles entdecken lassen. Aristoteles steht der Archetypenlehre Platons nicht wirklich entgegen – im Gegenteil. Er denkt in ihr und vervollständigt Platons Grundlegungen durch weitergehende Differenzierungen. Das Werk Aristoteles versucht die bis dahin offengelassenen Fragen zu beantworten. Unter dem Vorbild der dialektischen Methode bezieht Aristoteles zu Platon notwendigerweise Gegenpositionen.
Aristoteles entwickelt sie in den meisten seiner philosophischen Entwürfe und demonstriert damit ganz praktisch Sinn und Zweck der Polarität ohne die nichts existiert und ohne deren Ausformungen es keine Entwicklung gibt. Das Denkmuster ist jedoch das der Triade. Die unter ihrem Vorbild hervortretende Gegenthese stellt nicht das grundsätzlich Gegebene in Frage, sondern nur seine bis dahin geltende Form. Das gilt nicht nur für das an anderer Stelle beschriebene Beispiel der Definition von Glückseligkeit. Es gilt ganz grundsätzlich und vor allem auch für die Einordnung der Zahlen als Erkenntnisinstrumente. Sie reduzieren das Beziehungshafte auf das Wesentliche, auf die Beziehung von Linearität und Bruch. Die Geometrie macht sie räumlich sichtbar. Das einfache, gleichseitige Dreieck und seine Weiterentwicklung zum vorbesprochenen pythagoreischen Dreieck sind die Eckpfeiler der geometrischen Symbolik.
Platon und Aristoteles arbeiteten ihre Themen vor dem Hintergrund von geometrischen Gleichnissen ab. Neben der grundsätzlichen Triade spielte das pythagoreische Dreieck mit den Größen 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 12 eine entscheidende Rolle. In ihm geht es um die Unterscheidung und schließlich die Verbindung von 3 (Geist, Bewegung) und 4 (Materie, Substanz). Platon errichtete sein Ideengebäude aus der Position der 3, dem Geistigen heraus. Aristoteles hingegen beginnt seine Argumentationen aus der Sicht der 4, der erscheinenden Substanz.
Der Unterschied ist nur ein formeller. Beide zielen auf das Subjekt (5) und seine notwendige und rechte Handlung. Die nachfolgenden Gegenüberstellungen einiger Thesen beider Philosophien sollen vor dem Hintergrund der Botschaft des Dreiecks deren inhaltliche Verbindung verdeutlichen:
- Ideenlehre versus Substanzlehre
Platon sieht das Wesenhafte ÜBER den Dingen (in Übersetzungen zumeist mit „hinter den Dingen“ wiedergegeben), Aristoteles hingegen IN den Dingen. Aristoteles will die Dinge und das in ihnen zum Ausdruck kommende Wesen nicht über den Bruch sondern über die Einheit definieren und setzt deshalb primär die Existenz der Substanz (4) voraus. Dabei bezweifelt er jedoch keineswegs, das etwas existiert, was die Substanzen bewegt (3). Das alles hervorbringende Grundprinzip ist auch für Aristoteles die Bewegung und die entspricht dem Archetyp der Dreizahl! Um die Substanz und die Bewegung als ein erstes Existierendes zusammenzubringen, schließt er auf die Existenz eines „unbewegten Bewegers“. Damit definiert Aristoteles ein höchstes Subjekt (5) und umschreibt in ihm die Geist und Materie verbindende Fünfzahl.
Platon entwickelt seine Gedanken ausgehend von der 3; Aristoteles beginnt bei der Existenz der 4, geht also umgekehrt zu Platon vor, zielt aber ebenso wie dieser auf das erkennende und handelnde Subjekt (5). Einig sind sich beide in der konstituierenden Wirkung des Subjektes (5), dessen Aufgabe in der Verbindung von 3 und 4 besteht, wie es das pythagoreische Dreieck vorgibt.
- Die unterschiedliche Art der Beschreibung
Bei allen Unterschieden zwischen Platon und Aristoteles gleicht die von Aristoteles beschriebene Rhetorik im wesentlichen der dialektischen Methode, wie wir sie aus Platons Dialogen kennen. Solche grundlegende Gemeinsamkeit kann nicht verwundern, denn sie beruht auf dem Archetyp der Trias und die ist die Denkgrundlage beider Philosophen. Die aus ihr hervorgehenden, konkreten Beschreibungen allerdings entsprechen dem Archetyp der Vierzahl und die drückt neben der in ihr wirkendenden Einheit vor allem auch Variabilität und Unterscheidung (2) aus. Platons Art der Beschreibung setzt die grundlegende Triade ins Bild. Aristoteles geht einen Schritt darüber hinaus und hebt das Konkrete der Welt in ihrem Symbol der Vierzahl hervor. Dabei offenbart er stets die in ihr gegenwärtige Einheit.
Platon legt seine Überlegungen in drei verschiedenen Ansätzen vor. Sie werden heute meist zeitlich begründet und als dessen Früh- Mittel- und Spätwerk angesehen. In Wirklichkeit aber ist diese Ordnung inhaltlich begründet. Platon setzt in ihr praktisch die triadische Grundlage der Archetypenlehre um. Die Werke Aristoteles hingegen unterscheiden sich auch hier von denen Platons, denn sie fallen im Unterschied zu ihnen durch eine bemerkenswert unveränderliche Sachlichkeit auf. Der Leser hat mithin den Eindruck, dass nicht einmal die „Tonart“ irgendwelchen Schwankungen unterliegt. Seine Werke leben zwar von großartigen, weitgehenden Differenzierungen – dem Archetyp der Zwei. Sie offenbaren endlich aber, dank der vermittelnden Drei in allen ihren Teilen das Wesen der Vier und ihrer innewohnenden Einheit (s. 1+2-> 4). So, wie das wesentliche Merkmal der Vier trotz aller notwendigen Differenzierungen (2) die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (1) ist, erscheinen die Werke (4) Aristoteles auch in ihrem formellen Ausdruck. Während bei Platon noch die beiden Wirk-Komponenten der Drei, das Trennende und das Verbindende den Ton angeben, ist das bei Aristoteles nun das Wesen der Vier in ihrer Offenbarung der Einheit. Wieder liegt die Unterscheidung von Platon und Aristoteles in der Unterscheidung von 3 und 4.
Weil Aristoteles seine Argumentation von der Vollkommenheit der Vierheit aus aufbaut, arbeitet er konsequenterweise auch zuerst die Physik, das Konkrete ab. Erst dann wendet er sich der Metaphysik zu (dem „Hinter der Natur“; gr. μετά = hinter; gr. φύσις = Natur), also dem o.g. IN bzw. ÜBER. Aristoteles geht von dem vorliegenden Konkreten (4) aus und schließt auf das „Dahinterstehende“, das Bewegende (3).
- Körper versus Seele
Platon wendet sich zunächst einem Gegensatz zu, dem Gegensatz von Körper und Seele, der das Leben des Menschen grundsätzlich beherrscht. Dabei bezeichnet er den „Körper als das Gefängnis der Seele“.
Auch für Aristoteles besteht eine solche, das Leben hervorbringende Spannung. Doch hört sich dessen Beschreibung aufgrund seiner Sichtweise völlig anders an. Aristoteles geht von der primären Existenz des Konkreten, der Materie und Substanz aus und erblickt dort die in ihr verborgene Qualität der Vierzahl. Die Vier ist gleichermaßen von der Einheit und der Polarität geprägt. Insofern erblickt er in ihr die Potenz zur Vollkommenheit. Was Platon noch als Gegensatz (Körper – Seele) definiert, ist für Aristoteles schon das Potential zur fruchtbaren Vereinigung der Gegensätze. Bei Aristoteles vollendet die Seele den Körper.
Der Widerspruch zwischen beiden hebt sich auf, sobald man den Archetyp der Drei (das Verbindende, die Bewegung) kennenlernt und ihn als letztes Wirkprinzip zur Anwendung bringt. Die Dreiheit beschreibt die Grundwahrheit, dass die Aufgabe des Gegensatzes eben darin besteht, das zuvor Gegebene zu vervollständigen. Insofern handelt es sich um die gleiche Wahrheit.
Gleichwohl wirkt die Substanzlehre auf den in der Natur der Dinge verhafteten Menschen wirklichkeitsnäher, obwohl Aristoteles in ihr nichts anderes macht, als die Archetypenlehre des Platon praktisch und konkret umzusetzen. Während Platon die Archetypen zuerst einmal systematisch entwickelt, geht Aristoteles von deren Hauptformel der Erkenntnis, von der Qualität der Vierheit aus. Da alle Erscheinungen ein Ausdruck der Vierheit sind, handelt er diese nun auch an jener ab. Das macht ihn in der Konsequenz zum Begründer der Naturwissenschaft.
- Erlösung versus Vollendung (s.a. gesonderten Aufsatz Erlösung.docx)
Wer nach Erlösung strebt, der hat das Gefühl eines Mangels. Erlösung zielt auf die Überwindung des Mangels im Offenbarwerden einer Ganzheit. Weil Platon sehr früh schon vom „Körper als das Gefängnis der Seele“ sprach, gilt er für viele als der Urheber des Erlösungsgedankens. Seine so genannte Erlösungsstrategie begründet sich in der Erkenntnisgewinnung durch die eigene Überlegungskraft. Enthebt man den Vorgang dem umfassenderen Gesamtkontext, so kann man, wie später im Christentum auch geschehen, diesen als eine reine Selbsterlösung interpretieren. Jener „Selbsterlösung“ trat das Christentum sodann mit der von ihr vertretenen Fremderlösungsthese und dem leiblichen Erlöser Christus gegenüber.
Tatsächlich steht hinter der Erlösungskonzeption Platons vielmehr eine archetypische Ordnung, in der es um das rechte Verständnis der Fünfheit geht, wie sie im pythagoreischen Dreieck zur Anschauung kommt und in welcher das Subjekt die vermittelnde Funktion zwischen Geist und Materie einnimmt.
In den Lehren des Aristoteles hingegen glaubt man im allgemeinen, die völlige Abwesenheit eines Erlösungskonzeptes erkennen zu können. Man begründet es mit dem schon o.g. unverstandenen, formalen Unterschied zwischen der Ideenlehre Platons und der Substanzlehre Aristoteles. Weil die Substanzlehre des Aristoteles schon von der potentiellen Vollkommenheit der Schöpfung ausgeht, gibt es im strengen Sinne auch nichts, was einer Überwindung durch Erlösung bedarf. Eine von vornherein potentiell vollkommene Schöpfung muss dann nur noch entfaltet werden.
Die Differenz bezüglich des bei Platon vorhandenen und bei Aristoteles vermeintlich nicht vorhandenen Erlösungskonzeptes löst sich in dem Maße auf, in dem man den Zusammenhang von Ideenlehre und Substanzlehre versteht, welche beide auf die Archetypen und ihre Wirkung im Dreieck zurückgreifen.
Der entscheidende Punkt des richtigen Verständnisses der Substanzlehre des Aristoteles ist das Erkennen der Vierzahl und der durch sie ausgedrückten allgegenwärtigen Vollkommenheit, wie sie die ältere platonische Lehre darlegt.[vi] Der Überlieferung nach soll der Weihespruch in der Akademie im „Aufzählen“ der ersten vier Zahlen bestanden haben. Was so profan klingt, ist nicht weniger als das Bekenntnis um das tiefe Wissen einer Universalformel: In der Vier erscheint die Vollkommenheit (1) im Konkreten (1->4).
Die Unterscheidung zwischen dem Platon zugeschriebenen (Selbst-) Erlösungsgedanken und dem von Aristoteles entwickelten Gedanken einer Vollendung dessen, was in uns bereits als Vollständiges angelegt ist, hat nur vorübergehend Bestand. Die Philosophien Platons und Aristoteles sind auch hier nur verschieden gewichtete, sich aber ergänzende Darstellungsweisen der Aufgabe des schauenden und handelnden Subjekts (5), das die Entitäten Geist (3) und Materie (4) im „rechten Winkel“ miteinander zu verbinden hat (s. Dreieck 3-4-5-6).
- Glück: Gerechtigkeit und Ehrlichkeit versus Lust
Das von Platon im 1. Buch seiner Politeia (343c/d) vorgebrachte Beispiel, warum ein Gerechter um den Faktor 729 glücklicher sei als ein Tyrann, befremdet verständlicherweise den unvorbereiteten Leser. Wie kann man etwas so Fließendes wie das Glück mit einer konkreten, unveränderlichen Zahl in Verbindung bringen? In einem gesonderten Aufsatz über die Glückseligkeit habe ich die dahinterstehende Logik beschrieben. Wenn einem unvorbereiteten Leser, dem die Verbindung bizarr erscheinen muss, sodann die Definition von Glück des Aristoteles vorgestellt wird, klafft eine schier unüberbrückbare Kluft zwischen beiden auf.
Platon geht es um das Grundsätzliche und Archetypische. In der dem konkreten Leben entsprechenden Kristallisationsform ist es das Wahre, Schöne und Gute. Wegen seiner größtmöglichen Nähe zum Absoluten hat das auch die größtmögliche Wirkung im Leben und deshalb für den Menschen auch höchste Priorität. Die für den Menschen daraus entstehende wichtigste, zu erfüllende Bedingung ist die Gerechtigkeit. Sie muss des Guten wegen nach Platon immer erfüllt werden. Die darin liegende Konsequenz vollzieht Sokrates indem er der Gerechtigkeit willen sogar den Schierlingsbecher leert und sein Leben gibt.
Indem Platon am Verhalten des Sokrates das Grundsätzliche als das Grundsätzliche demonstriert, tritt natürlich auch seine dingliche Verfangenheit hervor, die er nicht weiter thematisiert. Platon geht über das einmal definierte Gerechtsein, weil es einen so hohen Wert besitzt, nicht hinaus. Darin eröffnet sich ein Problem, denn wer im ganz Konkreten um jeden Preis „NUR“ gerecht sein will, der erfüllt die in der Triade liegende Weisheit nicht mehr und verfängt sich stattdessen in der Linearität. Den notwendig offenbleibenden Fragen wendet sich später Aristoteles zu.
Nach der üblichen Lesart der Schriften reicht es Platon, gerecht zu sein. Es reicht ihm, selbst wenn es sich nicht gut anfühlt, denn nach ihm darf es nicht der Zweck sein, sich gut fühlen zu wollen. Hier schreitet Aristoteles differenzierend ein und stellt der linearen Sichtweise eine andere gegenüber, in der die Lust und das gute Leben mitgewichtet werden. Die lineare Auslegung der platonischen Sicht, dass moralisches Handeln immer das Glück sichert, entbehrt der Realität des Lebens. Aristoteles geht vom praktischen Leben aus und hat im Sinne Platons auch gute Gründe für seine Sicht. So ist für ihn das höchste Gut des Menschen die Glückseligkeit (eudaimonia). Sie ist das Endziel des Handelns. Sie ist es deshalb, weil sie nicht wie andere nur Mittel zum Zweck sind, sondern für sich selbst steht, also sich selbst genügt. Wir erstreben sie ihrer selbst willen. (1097b20)
Aristoteles hat eine größere Nähe zur Erlebniswirklichkeit des Menschen. Er beschreibt mit großer Überzeugung eine reale Wirklichkeit, bei der ein Mensch, welcher die Gerechtigkeit immer unmittelbar und uneingeschränkt lebt, sich häufig und schnell in eine unglückliche Situation bringt und sogar sein Leben gefährdet. Was hier zwischen Platon und Aristoteles so unüberbrückbar erscheint, hat dennoch eine gemeinsame Basis. Von der aus erarbeiten sie ihre relativen, zueinander abgestuften Wahrheiten, welche im Rückblick die gemeinsame, archetypische Ordnung erkennen lassen. Das in ihr als wahr Erkannte folgt, da es wahr ist, dem Gesetz der Vierheit – dem Additionsgesetz. Die platonischen und aristotelischen Wahrheiten ergänzen sich daher. Die Ausführungen des Schülers wirken naturgemäß wirklichkeitsnäher, haben aber ohne die Grundlagen des Lehrers keinen Bestand.
Aristoteles wertet das Gute und die Gerechtigkeit nicht ab. Auch schwächt er sie nicht, will aber auch das „Andere“, die Lust (Hedonae) in einer größeren Einheit eingeschlossen wissen. Die Gerechtigkeit erweist sich in der Tugend. Sie bildet mit dem Glück eine unauflösbare Einheit. Für Aristoteles ist glückselig, wer die von Natur aus in ihm liegenden Talente und die Tugenden innerhalb der Gemeinschaft entfaltet.
Auf dieser Grundlage entwickelt Aristoteles im 10. Buch seiner Nikomachische Ethik eine telelogische Ethik, in der er den Bedingungen des Lebens Rechnung trägt. Sein Ziel ist das gute Leben, das über einen Ausgleich der Gewichte von Tugend und Lust erreicht wird.
Aristoteles stellt dem philosophischen Angebot Platons ein anderes und weitergehendes entgegen. Das steht aber ebenso wie das Platons in der allgegenwärtigen Gefahr, linear interpretiert zu werden und darin unterzugehen. Aristoteles geht es zum Erreichen eines guten Lebens um eine Dynamik, welche den Ausgleich zwischen Extremen bewirkt. Konkret bedeutet das, die richtige Mitte zwischen Übermaß und Mangel zu finden. Wie sehr man diese Begriffe im linearen und damit falschen Sinn deuten kann, liegt auf der Hand und wurde von Aristoteles selbst kritisch bemerkt. Die später entstandene und ausufernde, sogenannte Mesotes-Lehre (mesotes = richtige Mitte) gibt Aufschluss darüber.
Um die positiv zu verstehende Weiterentwicklung durch Aristoteles recht zu deuten und der Gefahr ihrer linearen Fehldeutung zu entgehen, muss man sie unter der Perspektive der Triade betrachten. Die von Aristoteles beschriebenen drei Weisen des Glücks geben dazu Gelegenheit:
Aristoteles ordnet das Glück dem Archetyp der Dreizahl und somit der Bewegung zu. Für ihn ist Glück eine „Tätigkeit“ (energia), in der das vollendet wird, was in uns bereits angelegt ist und seiner Natur (4) nach die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit beinhaltet (1).
Aristoteles kennt drei voneinander abgestufte Weisen von Glück:
(A) Die erste Weise des Glücks besteht in der Ausrichtung des Lebens an Lust und Vergnügen.
(B) Die zweite betrifft das Leben eines verantwortungsbewussten Bürgers, der in Ausübung seiner Freiheit sich und die Gesellschaft entfaltet.
(C) Im Besitz der dritten und höchsten Weise des Glücks aber ist nur der Philosoph, der sich über das Leben selbst Klarheit verschafft. [vii]
Das Glück ist nach Aristoteles stets ein Zusammenwirken der drei Weisen, bei der der Einzelne immer eine von ihnen zur dominanten Weise erhebt.
Hinter der aristotelischen Definition menschlichen Glücks steht vor allem das wertende Subjekt (5). Noch grundsätzlicher ist die Wirkung der Triade. Sie ordnet und bewirkt nicht nur das Glück sondern das Subjekt selbst. Ihre innewohnende Hierarchie drückt sich im geometrischen Gleichnis des pythagoreischen Dreiecks aus. Es macht deutlich, in welcher ganzheitlichen Beziehung die Wahrheiten Platons zu der seines Schülers Aristoteles stehen.
[i] Sir Isaac Newton (1643 – 1727) bezog sich auf das Zitat und formulierte: „Platon ist mein Freund und Aristoteles auch, meine liebste Freundin aber ist die Wahrheit.“
[ii] Anmerkung des Verfassers
[iii] „ … was allen Künsten und Forschungen und Wissenschaften unentbehrlich ist, und was denn jeder mit als Erstes erlernen muss. Diese ganz bescheidene Weisheit: die richtige Kenntnis der Eins, der Zwei und der Drei.“ (Plato, Sämtliche Dialoge, Band IV, Der Staat, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, Siebtes Buch, 522 St.)
Dass unter der »richtigen« Kenntnis nicht nur eine quantitative sondern vor allem auch eine der übergeordneten Idee zugehörige qualitative Schau zu verstehen ist, die sowohl dem Kriegsmann wie dem Philosophen dient, das stellt Platon klar und deutlich heraus: „Es obliegt uns also dies Fach (Zahlenkunst) zum gesetzlichen Lehrfach zu machen und diejenigen, die künftig im Staate der höchsten Amtsgewalt teilhaftig sein sollen, zu veranlassen sich der Zahlenkunst zuzuwenden und sich mit ihr zu befassen nicht etwa bloß in laienhafter Weise, sondern bis sie durch reine Vernunfttätigkeit zur Anschauung der wahren Natur der Zahlen gelangt sind, eine Art der Behandlung, die nichts gemein hat mit Kaufen und Verkaufen wie bei Kaufleuten und Krämern…“. Für Platon war jenes Lehrfach ein „besonders feines Fach“, weil es, wie er es ausdrückte, „die Seele offenbar nötigt auf dem Wege des reinen Denkens sich der reinen Wahrheit zu nähern.“ (Plato, Sämtliche Dialoge, Band IV, Der Staat, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, Siebtes Buch, 525St.)
[iv] Auf diesem geometrischen Gleichnis beruht auch die Geometrie des Salomonischen Tempels. Er ist das Urbild der abendländischen Tempel und das Sinnbild für den heiligen Raum, in dem der Mensch sein Verhalten ausrichtet.
Der Salomonische Tempel besteht aus einer Trias, dem Vorraum, dem Tempelraum und dem Allerheiligsten. Seine Maße umfassen die fortlaufenden Zahlen 1 bis 7. Indem er so den den Zahlenstrahl und verweisen somit auf die Identität von dem Heiligen und der Za den Zahlenstrahl hervortreten lässt, thematisiert er zum einen das Prinzip der Linearität und zum anderen differenziert er zugleich die einzelnen Zahlen bezüglich ihrer Dimensionsaussage. So gibt beispielsweise die 3 die Höhe des Tempels an und die 7 überspannt als gemeinsame Raumdiagonale sowohl das Allerheiligsten als auch den Tempelraum. Der eigentliche (mittlere) Tempelraum wird vom besagten Dreieck 3-4-5 aufgespannt und bildet auf diese Weise das rechte Verhaltensmuster des Subjektes (5) bezüglich seiner Existenz zwischen Geist (3) und Substanz (4) ab. (s. Aufsatz: Der Tempel Salomons.docx)
[v] Noch heute ist das Lyzeum (lat. Lykio, grch. Λύκειο) im griechischen Schulsystem eine weiterführende Bildungsstätte. Es folgt dem Gymnasium und bereitet mit den Jahrgangsstufen 10 bis 12 das Studium vor.
[vi] Die das ausdrückende „Urformel“ spricht von der Identität von Einheit und Vielheit (1⏏4), wobei erst mit der Vielheit (4) als solche Sichtbarkeit entsteht. Diese sodann aber immer Einheit ausdrückt. Als Sokrates seinen Schüler Glaukon nach dem Wesen der Zahl in Hinblick der Unterscheidung von Denkbarem und Sichtbarem befragt, antwortet Glaukon im Einvernehmen zu seinem Lehrer „ … denn den nämlichen Gegenstand sehen wir zugleich als Eins und als ein unendliche Vieles.“ Sokrates bekräftigt: „Und wenn dies bei der Eins der Fall ist, so gilt das auch von allen Zahlen überhaupt“ (Plato, Der Staat, Siebtes Buch, 524f St.)
[vii] An anderer Stelle wurde deutlich, dass die letzte und höchste Funktion, mithin die „letzte Tätigkeit“, ein „Sich-selbst-genug-sein“ ist. Sie ist besser als alle anderen Tätigkeiten. So ist auch sie das Prinzip, die Bewegung, welche am ehesten zur Glückseligkeit führt. Sie muss ihrer Natur nach eine geistige und betrachtende Tätigkeit sein. Die Lust als Tätigkeit unseres Körpers hingegen kann es nicht sein, denn sie kann immer noch gesteigert werden und verlangt nach ständig wachsender Intensität. Diese Art der Bedürfnisbefriedigung ist Abhängigkeit. (… niemand ist neidischer als der Reiche) Wahres Glück kann man demnach nur durch den Geist erzielen! Das Denken kann auf sich selbst gerichtet sein. Im Denken bin ich autark.
Darin gibt es zwischen Paton und Aristoteles keine Differenz. Bezüglich der Lust ist das anders, denn Aristoteles wertet die Lust im Gegensatz zu Platon dann mit Recht doch wieder auf. Nach der Unterscheidung von Geist und Körper erhalten beide ihren notwendigen Platz in der Erlangung von Glück.