Eine Sammlung zum Thema Zahlen von Dr. Michael Stelzner

Die erste und zweite Generationsfolge (Toledot) in der biblischen Genesis

(Toledot 1+2 Aufsatz.docx)

Die biblische Genesis (1. Buch Moses) hat eine durchgängige Ordnung. Ihre Kriterien sind die „Toledot“, die sogenannten Geschlechterfolgen. Sie erfüllen zwei Aufgaben. Zum einen sind sie Geschlechtsregister und geben wie solche Auskunft über die Verwandtschaftsverhältnisse der biblischen Figuren. Zum anderen und wesentlichen aber geben die Toledot den zahlreichen Erzählungen ein „Geschlecht“ im Sinne einer inhaltlichen Färbung. Sie geben dem Leser eine Orientierungshilfe für die Interpretation der Texte an die Hand. Das ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil die biblischen Texte sich aus profaner Sicht untereinander zum Teil erheblich widersprechen. Der Widerspruch und dessen jeweils spezifische Lösung ist geradezu ein Wesensmerkmal aller biblischen Texte.

 

Die Unterscheidungskriterien der Toledot sind die Zahlenarchetypen, wie sie die Sieben-Tage-Ordnung zu Beginn der Genesis vorstellt. Den Beschreibungen der sieben Archetypen in Metaphern folgen die inhaltlich aufeinander aufbauenden Toledot. Dabei gibt die Zahl einer Toledot den jeweiligen Gesichtspunkt an, unter dem ihre Erzählungen betrachtet werden müssen.

 

Die erste Toledot beginnt in Gen 2:4 und berichtet von der Erschaffung des Menschen, seiner Stellung im Garten Eden und von einer Gottheit, welche dem Menschen bei seinem „Vergehen“ zuschaut und anschließend aus dem Garten Eden vertreibt. Der Konflikt der Gegensätze erreicht im Brudermord des KAIN an ABEL seinen Höhepunkt, bevor die zweite Toledot ab Gen 5:1 beginnt. Die wirft dann einen anderen und erweiterten Blick auf die Zahl Zwei und den Zwiespalt des Daseins. Mit diesem Blick ändert sich auch das Urteil des Lesers über das Geschehene in der ersten Toledot.

Der größte aller Zwiespalte ist der zwischen dem Diesseits und dem Jenseits alias der zwischen den Menschen und der Gottheit. Um ihn zu verstehen, muss das Bewusstsein des Menschen reifen und er muss die Gottheit und ihre Handlungsmotive ergründen und verstehen lernen. Die Einsicht gibt der Archetyp der Zwei und die ihm entsprechende zweite Toledot mit ihrer von der ersten Toledot abweichenden Geschlechterfolge (siehe Abb. Toledo 1+2).

Abb. Toledot 1-2

 

Die in der Tora angegeben Geschlechterfolgen (Toledot) verweisen auf die unterschiedliche Zähl- und Erzählart. Die Figur des LAMECH aber nimmt in beiden die Position der Sieben ein. Der gottesfürchtige Henoch wechselt von der dritten Position zur bewussten, fünften Position.

 

 

In der zweiten Toledot findet das zweite Geschlecht, das Geschlecht von KAIN und ABEL, das zuvor das Geschlecht des Brudermordes war, keine Erwähnung mehr. Die Begründung ist im doppelten Wortsinn einfach: Das frühere, subjektive Urteil und seine Sicht sind durch ein gewachsenes Bewusstsein (5) überwunden.

 

Das neue Bewusstsein reflektiert die Fehlbarkeit und die Sterblichkeit des Menschen als eine Notwendigkeit der Fortentwicklung. Im Vordergrund steht jetzt die Fünfzahl, welche die Einheit und Ganzheit spiegelt (siehe 1—5) und sich seiner wechselnden, weil wachsenden Anschauung bewusst ist. Das neue Bewusstsein schafft einen neuen Menschen. Der neue Mensch, der mit der zweiten Toledot erschaffen wird, reflektiert den Begriff „bara“ (2-200-1), der das göttliche „Schöpfen“ bezeichnet und im Prolog der Genesis (Gen 1:1) die ersten beiden Wörter bildet:

 

          Im-Anfang                    schuf (en)        Elohim (die Götter !)   …   …   …

2-200-1-300-10-400               2-200-1            1-30—5—10-40

 

Der an Bewusstsein gewachsene Mensch anerkennt das Prinzip des Teilens und das Geteilt-Sein, erhebt das Prinzip (2->200) und begründet somit eine neue Einheit (1) und Ganzheit. Die ersten Sätze der zweiten Toledot stellen das explizit klar und heben es im Detail ins Bewusstsein seiner Leser:

 

Dies ist die Toledot Adams. An dem Tag, als Gott Adam [1-4-40] schuf [2-200-1], machte er ihn Gott ähnlich! Als Mann und Frau schuf [2-200-1] er sie, und er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch [1-4-40], an dem Tag ihres Erschaffenwerdens [5-2-200-1-40].

 

Dieser, die zweite Toledot eröffnende Prolog ist nicht weniger als der Bericht über eine zweite Schöpfung. Genau genommen ist er eine zweite Sicht auf die Schöpfung. Mit der zweiten Toledot und der Schilderung des zweiten Archetyps werden der Begriff „bara“ (2-200-1) sowie der Begriff des Erdbodens (1-4-40) durchschaut und in ihrer Wirkung klargestellt. Der Begriff und die Zahlenfolge des ersten Menschen (Adam) sind mit dem des Erdbodens identisch. Der archetypische Mensch ist ein „Erdling“ und wie der Erdboden vollkommen, aber unbewusst. Der Ackerboden und der Mensch bilden das im Gesetz der Vier beschlossene Wesen der Ganzheit ab. Das darüber erlangte Bewusstsein macht die zweite Schöpfung aus. Durch sie begreift der Mensch seine Beziehung zur Gottheit und nimmt im Gegenüber zu ihr folgerichtig seine Sterblichkeit und Begrenztheit an. Mit dieser zweiten Menschwerdung beginnt eine neue Zähl- und Erzählweise. An die Stelle von ADAM dem Ersten tritt nun ENOSCH (hebräisch אנוש, 1-50-6-300 = 357), was ebenfalls „Mensch“ bedeutet. ENOSCH ist ein Neubeginn. Die ersten zwei Generationen, ADAM und SET symbolisieren nur noch die allgegenwärtige Polarität, welche die Voraussetzung für jede Entwicklung ist. Das nun gültige, neue Deutungsmuster ist das der durchschauten Zwei und damit auch das der Fünf. Die Fünf, das Subjekt steht der Gottheit gegenüber und ist in diesem Gegenüber ein mit Dimension erfülltes Zweites (siehe das Muster 1—5).

 

Die in der zweiten Toledot bewusst gewordene Spiegelbeziehung von Gott (1) und Mensch (5) macht der Text in der veränderten Position HENOCHs deutlich. In der ersten Toledot steht der für das dritte Geschlecht, in der zweiten Toledot hingegen für das fünfte. Das symbolisiert eine Fortentwicklung in der Schau auf die Dinge. Die Funktion des Erhebens, die genuin durch die Dreizahl symbolisiert wird, wirkt sich nun im Erheben der Fünf über die Vier aus. Im geometrischen Gleichnis entsteht aus dem zweidimensionalen Dreieck die dreidimensionale Pyramide mit dem erhobenen und schauenden fünften Punkt. Jene Qualität der Schau lässt einen neuen Blick auf die Gottheit und ihre Natur zu. In ihr wirkt das „Gesetz der Vier“, das von der verborgenen Vollkommenheit in allen Dingen berichtet.

 

Der Gesamtschau nach ist SET nach ADAM, KAIN und ABEL das vierte männliche Subjekt. Mit SET, der den erschlagenen ABEL („Windhauch“) ersetzt, wird ein neuer Grundstein (4) gelegt. SET (300-400) bedeutet auch Grund- oder Eckstein. Sein Sohn ENOSCH ist demnach ein Fünfter. Er steht für den Blick auf diese von der Vierzahl symbolisierte Vollkommenheit. Das meint der eigenartig wirkende, letzte Satz der 1. Toledot:

 

„… und er (SET) gab ihm den Namen ENOSCH. Damals fing man an, den Namen JHWH anzurufen“ (Gen 4:26).

 

Mit ENOSCH endet die vorherige Zähl- und Erzählweise der ersten Toledot. Es beginnt die zweite und neue Toledot (Gen 5:1), die bewusst auf das Wesen der Vier blickt und das auch in der Gottheit wahrnimmt. Jene Schau auf die Gottheit JHWH erkennt nicht nur in ihr das Wesen der die Vollkommenheit verkündenden Vier. Sie erkennt es dem Erhaltungsprinzip (siehe Additionsgesetz) nach folgerichtig auch in den Subjekten, welche der Gottheit gegenüberstehen, also auch in sich selbst. Die Anrufung der Gottheit JHWH in ihren vier Buchstaben ist eine Anrufung der Vollkommenheit.

 

ENOSCH symbolisiert den neuen, bewussten Menschen. In der Aufzählung der Geschlechter der zweiten Toledot beginnt mit ihm eine Gruppe von fünf Geschlechtern, die mit dem an die bewusste, fünfte Position getretenen HENOCH endet. Das neue, über SET, HENOCH und ENOSCH aufkeimende Bewusstsein erkennt die allgegenwärtige Vollkommenheit, ist in seinem konkreten Dasein jedoch immer noch ein bedingtes und begrenztes. Das erleben die Subjekte (5) in den ihnen immer aufs Neue zufallenden Ereignissen, die sie dem Jenseitigen, der Gottheit bzw. der Siebenzahl zuordnen müssen.

 

Die Sieben und die Gottheit werden in der Sieben-Tage-Ordnung von Anfang an einander gleichgesetzt. In der Gleichsetzung beantwortet der Archetyp der Sieben die Frage nach der Motivation der Gottheit. Diese frühe Antwort wird in den Geschlechterfolgen der ersten und der zweiten Toledot unmissverständlich, d.h. einheitlich beschrieben. Trotz unterschiedlicher Zähl- und Erzählweisen ist das Geschlecht des LAMECH das siebte Geschlecht. LAMECH ist es, der uns Klarheit über das Wesen der göttlichen Sieben verschafft und die scheinbaren Ungerechtigkeiten und willkürlich erscheinenden Zufälle des Lebens ins rechte Licht rückt.

 

Die Gottheit selbst war es, welche den tragischen Brudermord ausgelöst hatte. Kain befürchtete nach seiner fehlerhaften Tat, für seine Schuld von jedermann erschlagen werden zu können. JHWH aber versicherte ihm, dass alles der „Schicksalszahl“ Sieben unterliegt, welche stets Einheit und Ganzheit erstellt:

 

JHWH aber sprach zu ihm (Kain): So nicht! Jeder der Kain erschlägt, soll siebenfach gerächt werden! Und JHWH machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlüge, der ihn fände (Gen 4:15).

Die Stellung und Stellungnahme des LAMECH ist von entscheidender Bedeutung. Erst nachdem er, der Siebte zu dem von der Gottheit ausgelösten Mordgeschehen KAINs an ABEL steht, es benennt und einschließlich seiner selbst das Wesen der Sieben in allem Teilhaftigen bejaht, kommt es zur Geburt des SET. Erst dann konnte die Gottheit den „Eckstein“ SET an die Stelle des erschlagenen ABEL setzen.

 

Der Eckstein ist die gesetzte Einsicht und Klarheit. Konkret reflektiert LAMECH sowohl den Brudermord als auch die scheinbare Geringschätzung des Weiblichen, die seit dem Paradiesfall in der Vorstellung der Leser immer mitschwingt. In der Geburtenfolge blieb das Weibliche bis dahin unerwähnt. LAMECH beseitigt diesen Mangel und bringt eine Vierheit hervor. Er hat vier Kinder. Neben den Söhnen JABAL, JUBAL und TUBAL-KAIN (!) ist das vierte Kind die Tochter NAAMA! Die Nachkommenschaft ist ein Sinnbild für die erlöste Struktur. JABAL und JUBAL klingen einander nicht nur ähnlich, sie verkörpern die Zweisamkeit trotz ihrer Unterschiede. Der eine symbolisiert Einheit im unaufhörlichen Weiterziehen (Zelte und Herden) und der andere im beständigen Kulturbetrieb (Zither und Flöte). Der Dritte, TUBAL-KAIN bezieht sich auf die in allem wirkende, verbindende Funktion, auch wenn diese scheinbar auseinandertreibt. Der Doppelname verweist auf ihre Dualität und zugleich auf das „Prinzip KAIN“, das in TUBAL-KAIN als den Kupfer- und Eisenschmied in seiner Notwendigkeit anschaulich wird.

 

Von höchster Bedeutung aber ist die ausdrückliche Erwähnung der vierten Geburt, der Geburt der Tochter NAAMA. Ausgerechnet das bis dahin im Zwielicht stehende Weibliche nimmt die vierte Stelle ein, die das archetypische Sinnbild für die Vollkommenheit ist.

 

LAMECH spannt mit seiner Nachkommenschaft in jeder Hinsicht den denkbar größten Bogen auf. Er greift nicht nur explizit die Causa KAIN auf, sondern treibt sie gegenüber seinem Gegenpart, seinen zwei Frauen ADA und ZILLA auf die Spitze. Nach göttlichem Beschluss soll der, welcher glaubt, den von der Gottheit gezeichneten Brudermörder erschlagen zu dürfen, siebenfach gerächt werden. LAMECH führt das Prinzip fort und schließt in seiner Wahrhaftigkeit seine Person ein. Er gesteht seinen zwei Ehefrauen ein von ihm begangenes zweifaches Verfehlen: „ … Fürwahr, einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Knaben für meine Strieme“ (Gen 4:23). Der „Siebte“ berichtet weiter, dass er dafür nicht nur, wie die Hasser des KAIN 7fach, sondern 77fach gerächt werden wird. Bedenkt man zudem, dass LAMED 777 Jahre gelebt hat, wie es der Text ausdrücklich verrät, so erfahren wir nicht nur, weshalb das Wesen der Sieben und dessen Wirken göttlich sind. Die Abfolge der Zahlen 7, 77 und 777 berichtet vor allem von der fraktalen Struktur des Göttlichen, welche der Welt des Konkreten stets das ihr Fehlende zurückgibt. Das Wesen der Sieben garantiert in allen Teilen die Einheit und Ganzheit des Seins. Unter ihrem Gesichtspunkt ist die Unterscheidung von Kausalität, Vergeltung und Rache primär keine mehr der Unterscheidung von Gutem und Bösem, sondern eine zwischen den Reifegraden des beteiligten Bewusstseins. Um diese Bewusstseinsunterscheidung und Bewusstseinsreifung bemühen sich heilige Texte.